Was für ein Paradoxon! Einpeitscher des Kalten Krieges wie George F. Kennan haben eindringlich vor der NATO-Osterweiterung hin zu den russischen Grenzen gewarnt. Das war nüchternes Kalkül, erlernt in Zeiten harscher Konfrontation der Weltlager, manchmal vor Abgründen der menschlichen Zivilisation. Die grüne Partei hingegen, die einst Schwerter zu Pflugscharen schmieden wollte, hat heute eine bellizistisch eifernde Führung am Hals, der man ein Fünkchen dieser Weisheit wünschte. Leider spricht nichts dafür, dass solche Vernunft sie heimsuchen und ihre Lust bändigen könnte, dem Ampel-Galopp ins Verderben die Sporen zu geben. Die „Wesensveränderung der Grünen“ ist ein „tragischer Spezialfall“ innerhalb der „großen politischen und weltwirtschaftlichen Katastrophe“, schreibt Antje Vollmer.
Was wäre dringlich, damit es trotz der Fehlbesetzungen am deutschen Staatsruder für die Zukunft etwas aufzuräumen gibt? Das Volk müsste von den Regierenden einfordern, dass die kriegsverlängernden Waffenlieferungen an die ukrainische Front gestoppt werden und – so schwer es nach dem NATO-Befehl, den der Ungekämmte aus London in Kiew überbracht hat, auch sein mag – ein Frieden verhandelt wird, der den Sicherheitsbedürfnissen der beteiligten Nationen gerecht wird. Volkes Wille müsste eine faire Neugestaltung der europäischen und internationalen Sicherheitsarchitektur anmahnen. Dabei auch die Re-Installierung vernünftiger staatlicher und gegenseitig vorteilhafter ökonomischer Beziehungen zu Russland verlangen, deren Demontage den Menschen des europäischen „Wertewestens“ viel Lebensqualität genommen und solvente Unternehmen in Überlebenskämpfe gestürzt hat. Effektive Sicherheitsgarantien würden die Verschwendung von gewaltigem Volksvermögen an aberwitzige Rüstungsprojekte obsolet machen. Das 100-Milliarden-Paket, das das Scholz-Kabinett den Rüstungskonzernen spendiert, könnte für dringende Sozialaufgaben, zur Rettung maroder Infrastruktur oder zur Besinnung auf verschnarchte Digitalisierungszwänge verwendet werden. Ökologische Ziele, die heute ideologischer Vernarrtheit weichen müssen, hätten wieder Priorität und adäquate Mittel. Da aber die Irrschritte Deutschlands wie des gesamten „kollektiven Westens“ am US-amerikanischen Gängelband tappen, mehren sich Überlegungen für eine Entkoppelung des alten Kontinents vom überseeischen Eigennutz.
Der Enkel von Charles de Gaulle wiederholt die alte Ermahnung des Generals, sich mit einer US-Herrschaft über Europa nicht abzufinden. Klaus von Dohnanyi schreibt in seinem jüngsten Buch unumwunden, dass die USA „mit ihren nationalen Interessen die Entscheidungen unseres Kontinents“ dominieren. Oskar Lafontaine untertitelte seine jüngste Streitschrift „Ami, it’s time to go“ mit „Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ und fordert darin eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wie überhaupt ein Ende des Vasallentums am Hofe der USA. Anderenfalls führe Washingtons Bestreben, die einzige Weltmacht zu sein, unseren Kontinent permanent in militärisches Wettrüsten, Handelsverwerfungen und Stellvertreterkriege wie in der Ukraine.
Amerika zuerst? Amerika zuerst zurück ins Glied, damit sein angemaßtes Weltgendarmentum aufhört! Und endlich gleichberechtigt eingereiht in die Riege der Nationen, wo jede vortritt, wenn ihre Ressourcen und Fähigkeiten für das globale Wohlergehen gefragt sind. Natürlich werden die Völker zu reifer Zeit die Eigentumsfrage lösen müssen, denn „der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ (Jean Jaurès). Heute aber – an Abgründen – muss Nida-Rümelins Erkenntnis Vorrang haben: „Eine ethisch fundierte Realpolitik … sucht dort nach Möglichkeiten des Interessenausgleichs, wo die Konflikteskalation in kriegerische Auseinandersetzungen bis hin zum Nuklearkrieg führen kann.“