Die Beschäftigten beim Online-Riesen Amazon lassen nicht locker. Aus Anlass des „Prime Day“, einer großangelegten Rabatt- und Werbekampagne des Handelsunternehmens, haben in dieser Woche erneut mehrere tausend Kolleginnen und Kollegen die Arbeit für mehrere Tage niedergelegt. Die Gewerkschaft ver.di hat zu den Streiks in den Versandzentren Werne bei Dortmund, Leipzig, Rheinberg, Bad Hersfeld, Koblenz und Graben bei Augsburg aufgerufen. „Amazon setzt Millionen für die Werbung ein und macht an den Aktionstagen Milliardenumsätze“, begründete Orhan Akman, der bei ver.di für den Einzel- und Versandhandel verantwortlich ist, den erneuten Ausstand. „Den Kundenansturm müssen die Beschäftigten in den Versandzentren bewältigen und bekommen für die zusätzlich verschärfte Arbeitsbelastung keinen Cent mehr. Die Gewinne fließen allein in die Taschen des Konzerns und seiner Shareholder, während den Beschäftigten weiterhin eine tarifvertragliche Entlohnung sowie gute und gesunde Arbeitsbedingungen verwehrt werden.“
Offenbar um der Gewerkschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen hatte Amazon vor wenigen Tagen Lohnsteigerungen an allen Standorten in Deutschland zum 1. Juli angekündigt. Neben Gehaltsanhebungen von 2,5 Prozent will der Konzern künftig die untersten Lohngruppen auf 12 Euro pro Stunde anheben. Das sei „zynisch und fern von Anerkennung und Respekt gegenüber den Beschäftigten durch den Konzern“, so Akman. Er erinnert daran, dass Amazon in den vergangenen Jahren wiederholt die Löhne erhöht habe, das sei jedoch immer eine Reaktion auf die Streiks der Beschäftigten gewesen. „Amazon benimmt sich wie ein Gutsherr, der bei guter Laune und schlechtem Image mal ein paar Wohltaten für seine Tagelöhner übrig hat, die ansonsten aber seiner Willkür ausgeliefert sind“, so der Gewerkschafter weiter. „Nur der ver.di-Tarifvertrag bietet den Kolleginnen und Kollegen die Rechtssicherheit, dass ihre Einkommen nicht einseitig geändert werden können.“
Seit 2013 kämpft die Gewerkschaft für die Anerkennung der Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels durch Amazon sowie für einen „Tarifvertrag Gute und gesunde Arbeit“. So kritisierte ver.di in den vergangenen Monaten wiederholt schleppende und mangelhafte Maßnahmen des Konzerns, um die Beschäftigten vor einer Ansteckung mit Covid-19 zu schützen. Während sich der Konzern offiziell bedeckt gibt, ist in den Medien von hunderten Ansteckungsfällen die Rede. Ganze Schichten mussten zwischenzeitlich in Quarantäne geschickt werden.
Amazon verweigert nach wie vor Verhandlungen mit der Gewerkschaft und will von Tarifverträgen nichts wissen. Deshalb setzt ver.di neben dem Arbeitskampf darauf, den Konzern mit gesetzlichen Mitteln zur Tariftreue zu zwingen. Während der laufenden Tarifverhandlungen im Einzel- und Versandhandel fordert die Gewerkschaft von den Arbeitgeberverbänden, gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit der Verträge zu beantragen. Eine solche Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE), die das zuständige Arbeitsministerium erlassen müsste, würde die Gültigkeit des Tarifvertrags auch auf Unternehmen ausdehnen, die keine tarifgebundenen Mitglieder des abschließenden Kapitalverbandes sind. Dazu würde auch Amazon gehören, das sich Anfang 2020 zwar dem Verband des Einzelhandels, HDE, angeschlossen hat – ohne aber dessen Tarifverträge anzuerkennen. Möglich macht das die sogenannte „oT“-Mitgliedschaft, die der Verband vor zwei Jahrzehnten eingeführt hat. Durch diese können Unternehmer alle Vorteile der Verbandsmitgliedschaft in Anspruch nehmen, ohne aber die ausgehandelten Tarifverträge zu akzeptieren.
Der HDE verweigert die Beantragung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung – und die geltenden Gesetze sorgen dafür, dass dies einem Veto gleichkommt, denn derzeit müssen beide Tarifparteien gemeinsam den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit stellen, erst dann kann das Arbeitsministerium entscheiden. ver.di hat deshalb eine Kampagne gestartet, um durch eine Gesetzesänderung die AVE zu erleichtern. Denn inzwischen fallen nur noch 20 Prozent der Einzelhandelsunternehmen unter einen Tarifvertrag – für die Beschäftigten der übrigen 80 Prozent bedeutet das Einkommen, die oft mehrere hundert Euro unter den Tariflöhnen liegen. Als Folge solcher Dumpinglöhne müssen hunderttausende Beschäftigte Aufstockerleistungen der Arbeitsagentur in Anspruch nehmen, Millionen droht Altersarmut. Zugleich verschärft die Tarifflucht den seit Jahren in der Branche laufenden Vernichtungswettbewerb, in dem wenige große Ketten immer mehr zu Monopolen auf dem Markt werden, während kleinere Einzelhändler auf der Strecke bleiben.
In den regionalen Tarifrunden der Bundesländer fordert ver.di vor allem Gehaltssteigerungen von 4,5 Prozent plus 45 Euro bei einer Laufzeit von höchstens zwölf Monaten. Dafür haben in den vergangenen Tagen und Wochen bereits tausende Beschäftigte und hunderte Unternehmen die Arbeit niedergelegt – unter ihnen auch viele in Ketten, die sich der Tarifbindung bisher verweigern.