Dank der kommunalen Plakatierverordnung beginnt der EU-Wahlkampf in München ein paar Wochen früher. Wer dieser Tage einen Frühlingsspaziergang durch die Innenstadt macht, der kann die lila Plakate kaum übersehen. Sie hängen vor allem in den hochpreisigen Vierteln. „Wählen rettet Leben“ steht da in großen Lettern. Und weiter: „Deine Stimme für ein Stoppen des Sterbens auf dem Mittelmeer.“ Gezeichnet ist das Wahlplakat von „Volt“. Die „pro-europäische“ Partei rührte schon bei der letzten Wahl die Werbetrommel für das kränkelnde Projekt „Europäische Union“. Begleitet wurde sie von wohlwollenden Meinungsbeiträgen im bürgerlichen Feuilleton (Stichwort: Pulse of Europe). Wer die Liberalen wählt, der könne etwas gegen das Elend der Flüchtlinge tun – so die Botschaft des Wahlplakats. Denn „Volt“ fordert eine „Reform der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache“.
Die als Frontex bezeichnete EU-Grenzschutz-Agentur ist seit Jahren für ihre Aktivität als bewaffnete Küstenwache im Mittelmeer bekannt. Mit sogenannten „Push-Backs“ zwingt sie Boote mit Flüchtenden zur Umkehr ins Massengrab Mittelmeer – notfalls mit Gewalt. „Volt“ fordert dagegen die „Verstärkung der Überwachung aller Einsätze, um Anschuldigungen von Menschenrechtsverletzungen systematisch zu untersuchen“. Dabei sei eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Personal, „das an Grundrechtsverletzungen beteiligt ist oder Ermittlungen behindert, zu verfolgen“. Nicht an der Bekämpfung von Menschen auf der Flucht soll sich etwas ändern, sondern an der Verfolgung verbeamteter Flüchtlingsbekämpfer.
An der restriktiven Asyl- und Einwanderungspolitik wollen sie nichts ändern. Die katastrophalen und unwürdigen Schlepperrouten, auf denen Menschen in ein EU-Europa-Land finden, sind Ausdruck einer Politik, die Menschen und ihre Lebensbedingungen aus ihrer Verwertbarkeit fürs Kapital ableitet. „Volt“ ist keine skurrile Ausnahme, sondern spricht hier wie alle liberalen Parteien in ihren EU-Wahl-Programmen. Auch die Grünen, einst angetreten, um Menschenrechte und Frieden in alle Welt zu bringen, wollen Frontex „rechtsstaatlich weiterentwickeln“: „Dazu gehört, dass Frontex sich nicht an menschenrechtswidrigen Einsätzen beteiligen darf und solche Einsätze konsequent und zeitnah beenden muss, so wie es in der Frontex-Verordnung vorgesehen ist.“ Getarnt in Unkenntnis über ihr eigenes Regierungshandeln schreibt die Grüne Partei weiter: „Dass Flüchtlingshilfe in vielen Staaten erschwert oder gar unter Strafe gestellt wird, ist nicht hinnehmbar. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass die Unterstützung Geflüchteter nicht behindert, sondern ermöglicht wird.“
Der privat angeeignete Reichtum ist in den Grenzen der Festung Europa, die sich „Europäische Union“ nennt, bestens abgesichert. Doch das hindert die Menschenrechtslobbyisten nicht daran, ebenjene Festung in ihr Gegenteil umzudeuten. Die seit jeher liberalen FDP-Berufspolitiker sind da schon etwas geübter als ihre grünen Nacheiferer. Sie wissen, dass Wahlprogramme nicht zwingend das eine versprechen müssen, um dann das andere zu machen, wenn es doch möglich ist „sowohl-als-auch“ zu verkaufen. Und so fordert sie „einen schnelleren Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf die vorgesehene Personalstärke von 10.000 Einsatzkräften“. Begleitet werden müsse dies von strukturellen Reformen und einer Erweiterung von Kontroll- und Transparenzmechanismen. Frontex müsse auch die Seenotrettung auf dem Mittelmeer übernehmen. Da wissen sie auch die SPD an ihrer Seite, die ebenfalls auf die Aufklärung der Push-Backs durch die ausführende Agentur setzt: „Dabei muss insbesondere die Europäische Grenzschutz-agentur Menschenrechtsverletzungen aufklären und, wo immer möglich, verhindern.“ Das ist also mit „Wählen rettet Leben“ gemeint, mit der „Europa“-Apologeten zur diesjährigen EU-Wahl antreten. Damit ist „Volt“, die „europäische Bürgerbewegung“, am Puls der Ampel-Regierung. Wahlalternative oder gar Opposition geht anders.