Bundestag und Bundesrat haben dem „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro zugestimmt. Welche Folgen der Aufrüstungsbonus haben wird, darüber sprach UZ mit Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.
UZ: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte vor der Abstimmung im Bundestag, die Ampel-Regierung werde von keinem ihrer sozialen Ziele Abstand nehmen. Schwer zu glauben. Welche Folgen wird das „Sondervermögen“ wirklich für die Menschen in Deutschland haben?
Lühr Henken: „Sondervermögen“ ist ein trickreicher Begriff. Es sind in Wirklichkeit Ermächtigungen, Kredite aufzunehmen. Und jede und jeder weiß, dass Kredite mit Zinsen zurückzuzahlen sind. Das heißt, das „Sondervermögen“ sind Schulden bei Banken. Die Schulden werden aus dem Bundeshaushalt beglichen – aus Steuern, die wir abgeführt haben. Die 100 Milliarden setzen sich zusammen aus 81,9 Milliarden Euro für Kredite, 3 Milliarden Euro sind Zinsen für diese Kredite und 15 Milliarden Euro sind für Waffensysteme vorgesehen, die jetzt schon als Verpflichtungsermächtigungen im Bundeshaushalt stehen. Die Zurückzahlung der rund 85 Milliarden des „Sondervermögens“ soll spätestens ab dem 1.1.2031 beginnen. Einen Tilgungsplan gibt es noch nicht, aber es ist davon auszugehen, dass er auf 30 Jahre angelegt sein wird, so dass jährliche Zahlungen von gut 2,8 Milliarden Euro bis 2060 anstehen werden. Das ist Steuergeld.
Gibt es keine Steuermehreinnahmen dafür, kommen Steuererhöhungen oder Ausgaben müssen gekürzt werden – und das wird sicher im Sozialhaushalt sein. Sich deswegen neu verschulden kann die Regierung wegen der Schuldenbremse im Grundgesetz sehr wahrscheinlich nicht, weil bereits ab 2028 die Tilgungsrückzahlungen für die Corona-Jahre 2020 bis 2022 mit 10 bis 13 Milliarden Euro 30 Jahre lang massiv zu Buche schlagen. Aber Kevin Kühnert hat insofern Recht, dass wegen des „Sondervermögens Bundeswehr“ die Ampel keine Abstriche bei den Sozialleistungen machen muss, denn die Legislaturperiode der Ampel endet 2025 und die Rückzahlung der Schulden beginnt erst später – spätestens 2031.
Allerdings: Wenn die Differenz zwischen dem Verteidigungshaushalt (2022: 50,4 Milliarden Euro) und 2 Prozent des BIP (2022 ca.72 Milliarden Euro) jährlich nur durch das „Sondervermögen“ ausgeglichen wird, ist es spätestens 2026 verbraucht und der Fehlbetrag muss dann aus dem Verteidigungshaushalt allein aufgebracht werden. Woher nehmen? Steuern erhöhen oder Sozialausgaben kürzen? Gravierender als die 100 Milliarden wirkt sich langfristig die Erhöhung der deutschen Militärausgaben auf 2 Prozent vom BIP aus. Jährlich werden dafür 20 bis 25 Milliarden mehr verschwendet als letztes Jahr – mit steigender Tendenz. Das sind etwa 8 bis 10 Prozent der Sozialausgaben des Bundes. Kann dieser Militärbedarf durch Steuermehreinnahmen nicht gedeckt werden, geht’s an die Sozialausgaben.
UZ: Artikel 26 des Grundgesetzes verbietet Handlungen, die in der Absicht geschehen, „das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Das „Sondervermögen“ ist ein Kriegskredit, damit man noch schneller gegen Russland und China aufrüsten kann und um den Krieg in der Ukraine weiter anzuheizen. Begeht die Bundesregierung einen Verfassungsbruch?
Lühr Henken: Na ja, ich erinnere an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO um das Kosovo im Jahr 1999. Die rot-grüne Bundesregierung war aktiv daran beteiligt. Das hat doch wohl das friedliche Zusammenleben der Völker gestört, oder? Damals gingen wegen des Verdachts auf Verstoß gegen Artikel 26 GG in Verbindung mit Paragraf 80 Strafgesetzbuch (Vorbereitung eines Angriffskrieges) beim Generalbundesanwalt Strafanzeigen ein. Diese wurden nicht angenommen. Begründung: Da bereits eine Störung des friedlichen Zusammenlebens im Kosovo vorliege, habe das militärische Eingreifen ein friedenserzwingendes Motiv. Somit fehle es der Bundesregierung an der Absicht, das friedliche Zusammenleben zu stören. Die Anzeigen würden ins Leere laufen. Diese rechtliche Schiene ist also nicht so vielversprechend. Man sollte aber nichts unversucht lassen.
Die 100 Milliarden aus dem „Sondervermögen“ sollen ja dazu beitragen, das 2-Prozent-Ziel zu erreichen. Damit werden aggressive Ziele verfolgt: Mit dem Future Combat Air System FCAS strebt die EU unter deutscher Führung eine weltweite Luftüberlegenheit an, vom neuen Kampfpanzersystem MGCS, ebenfalls unter deutscher Führung, erhofft man sich die Unbesiegbarkeit auf dem Schlachtfeld und die Kriegsmarine wird zur weltweiten Einsatzfähigkeit mit Schiffen aufgerüstet, die ferne Länder von See aus beschießen können. Von dieser Bundeswehr geht eine Bedrohung anderer Völker aus. Hier kommt ein anderes Recht ins Spiel: Mit diesen militärischen Maßnahmen verletzt die Bundesregierung die UN-Charta, denn diese verbietet in ihrem Artikel 2, Absatz 4, nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern bereits deren Androhung.
UZ: Nicht nur mittels „Sondervermögen“ rüstet Deutschland auf. Mit einer Steigerung um 3,5 Milliarden Euro auf insgesamt 50,4 Milliarden Euro für den Rüstungshaushalt 2022 bricht dieser, wie in den Jahren davor, Rekorde. Durch Ringtausche rüstet Deutschland die NATO-Ostflanke auf. Die Bundesregierung setzt auf Siegesphantasien gegen Russland statt auf Verhandlungen für einen Frieden. Bei all der Übermacht der Kriegstreiber, was kann ein friedensbewegter Mensch heute tun?
Lühr Henken: Auf jeden Fall eins nicht: Sich der Übermacht ergeben. Die Herausforderungen waren selten höher. Die angesprochenen Aussichten sind schon schlimm genug, aber es kommt noch viel schlimmer, wenn es zur Stationierung neuer US-Hyperschallwaffen „Dark Eagle“ in Europa kommt. Ab nächstem Jahr schon müssen wir damit rechnen. Das sind Enthauptungsschlag-Waffen gegen die russische Regierung, die nicht abfangbar sind. Von der US-Heereszentrale Europa in Wiesbaden aus werden sie kommandiert. Wenn die Regierung nichts dagegen unternimmt, kommen wir in eine Lage, die noch gefährlicher ist als zu Zeiten von Pershing II und Cruise Missiles vor 40 Jahren. Hier ist viel zu tun, um die Öffentlichkeit überhaupt erst mal dafür zu sensibilisieren.
Hinzu kommt: Die Aufrüstung gegen Russland ist erst der Anfang eines auf Jahrzehnte angelegten Hochrüstens. Dafür schafft sich die NATO in Madrid Ende Juni auf ihrem Gipfel ein neues strategisches Konzept, von dem wir bis heute nur wissen, dass darin Russland zum Gegner – und nicht mehr zum Partner, wie im letzten Konzept von 2010 – erklärt wird. Es ist Grundlage für Aufrüstungsschritte, die die Vorwarnzeiten für Russland immer geringer werden lassen. Seit dem Beginn der Osterweiterung der NATO haben sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland bis hin zum Krieg verschlechtert. Wohin soll noch mehr Konfrontation gegen Russland führen? Ein friedensbewegter Mensch hat also genug Baustellen, die es zu bearbeiten gibt.