Wird sich die Mehrheit des SPD-Parteivorstandes auf dem Sonderparteitag am Sonntag in Bonn gegen Gegner und Kritiker durchsetzen? Überredungskunst, viele Versprechungen von Martin Schulz, die Theatralik von Andrea Nahles sowie eine geschickte Parteitagsregie könnten dafür sorgen. Sollte das geschehen, steht den Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien nichts mehr im Wege – auch wenn dann am Schluss die SPD-Basis über eine erneute Regierungsbeteiligung abstimmen soll.
Noch ist der Unmut in der SPD groß, die Ergebnisse der Sondierungsgespräche mit CDU und CSU werden kontrovers diskutiert. Was hat die SPD bei den angeblich „ergebnisoffenen Sondierungen“ erreicht? Hatte Andrea Nahles, die noch kurz zuvor in der Opposition knallhart kämpfen wollte, auf dem vorhergehenden Sonderparteitag nicht harte Verhandlungen mit den Unionsparteien angekündigt? „Das wird ganz schön teuer. Bätschi!“ Die Ergebnisse sind für nicht wenige in der Partei enttäuschend. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, versuchte am Montag zu beschwichtigen: Das Resultat der Sondierungen bedeute „deutliche Verbesserungen im Leben vieler Menschen“. Angesichts eines Wahlergebnisses von knapp 20 Prozent könne die SPD aber nicht damit rechnen, 100 Prozent ihres Wahlprogramms durchzusetzen.
Doch das Schönreden und Relativieren hilft nicht: In für viele Mitglieder wichtigen Themen hat sich die SPD in den Sondierungen nicht durchgesetzt. Man ist „umgefallen“. Alles soll weitergehen wie bisher. In der Flüchtlingspolitik hat sie zudem ihre Positionen völlig aufgegeben. Für die Bundeswehr soll mehr Geld ausgegeben werden. Eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes wird es nicht geben. Eine Vermögenssteuer für Superreiche stand erst gar nicht auf der Forderungsliste. Eine Bürgerversicherung soll nicht eingeführt werden. Die Festlegung der Verhandlungspartner, man wolle bis 2025 das Rentenniveau von 48 Prozent halten und dann „weitersehen“, ist eh eine Mogelpackung. Das Verbot „sachgrundloser Beschäftigungen“ stieß – ganz im Interesse der Unternehmer – auf den Widerstand von CDU und CSU. Die SPD-Vertreter knickten ein. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller kritisierte im ZDF, die großen Sozialthemen fehlten bisher „praktisch noch komplett“. Die SPD wollte auch massive Änderungen bei der Mietpreisbremse durchsetzen, die aus ihrer Sicht wirkungslos ist. Im Sondierungspapier heißt es nun lediglich, die Mietpreisbremse solle auf ihre „Wirksamkeit“ überprüft werden. Die SPD-Linke Hilde Mattheis, Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des SPD-Forums Demokratische Linke, sprach sich am Montag im ZDF-Morgenmagazin gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aus. Mit dem Sondierungsergebnis könne die Schere zwischen Arm und Reich nicht wieder zusammengeführt werden. Auch zum Problem der Altersarmut enthalte das Papier von Union und SPD keine Antworten.
In Teilen der Partei wächst die Furcht in einer erneuten Koalition mit den Unionsparteien erneut „unter die Räder“ zu kommen und dieses Mal endgültig in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen. Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund erklärte: „Man kann nicht ein drittes Mal sehenden Auges in den Abgrund steuern.“ Bereits am Sonnabend sprach sich eine hauchdünnen Mehrheit der Delegierten des Landesparteitags der SPD Sachsen-Anhalts gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aus. Vorher hatten die Thüringer dagegen votiert. Doch beide Landesverbände stellen nur wenige Delegierte. Am Montag beklagten Delegierte des Sonderparteitages aus dem größten Landesbezirk NRW vor einer Aussprache mit Martin Schulz und Andrea Nahles, dass die Vertreter ihrer Partei in den Sondierungsverhandlungen wichtige Positionen aufgegeben hätten. In Berlin entschied sich am Montag der SPD-Landesvorstand mit 21 zu 8 Stimmen gegen eine erneute Koalition mit CDU und CSU – in Brandenburg und in anderen Landesorganisationen ist man dafür. Kurz nachdem die Resultate der Verhandlungen bekannt wurden, wandten sich auch einflussreiche SPD-Politiker gegen die Sondierungsbeschlüsse, forderten Nachbesserungen. Während solche Nachverhandlungen in der CSU prompt abgelehnt wurden, kommen aus der CDU vermittelndere Töne.
Am Montag ging SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles in die Offensive. Sie sei zuversichtlich, dass auf dem Sonderparteitag am 21. Januar eine Mehrheit Koalitionsverhandlungen zustimmen werde. Im „Deutschlandfunk“ warf sie den Kritikern in der Partei vor, das Ergebnis der Sondierungen „mutwillig“ schlechtzureden – einige seien, „egal, was wir verhandelt hätten, gegen die GroKo“. „Das akzeptiere ich nicht, da werde ich dagegenhalten.“
Dagegenhalten werden aber auch jene Teile der Parteilinken und die Jusos, die nach wie vor eine Beteiligung ihrer Partei an einer neuen Koalition mit CDU und CSU ablehnen. Ob ihre Überzeugungskraft und ihre Argumente aber reichen?