Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors der Seite www.seniorenaufstand.de entnommen.
Zunächst zwei Fakten:
1. Seit 2003 weist das statistische Bundesamt die Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter aus. 2003 waren es 257 734 Bezieher, im Jahr 2014 hatte sich die Zahl auf 512 198 erhöht eine Steigerung um 100 Prozent in elf Jahren. Die Zahl der Zulagenberechtigten liegt höher. Sozialwissenschaftler schätzen die Dunkelziffer zwischen 60 und 100 Prozent. Tatsächlich werden also 800 000 bis eine Million ältere Menschen ein Einkommen haben, das unter dem Existenzminimum liegt.
Wichtig für die Begrifflichkeit: Wer geringere Einkünfte als die Grundsicherung hat, ist von Hunger und Obdachlosigkeit bedroht. Man kann sie auch als absolute Armutsschwelle bezeichnen. Sie beträgt aktuell im Bundesschnitt für Einzelhaushalte 790 Euro. Ob die Berechtigung zum Empfang dieser Leistung vorliegt, wird penibel amtlich geprüft.
2. Nach einem EU-einheitlichen Verfahren wird die Armutsgefährdungsquote für verschiedene Bevölkerungsgruppen ermittelt. Als von Armut bedroht gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhält. Der Anteil der betroffenen RentnerInnen und PensionärInnen hat sich in den letzten zehn Jahren von 10,7 Prozent auf 15,9 Prozent, also um 50 Prozent erhöht. Die rasante Zunahme führte dazu, dass 2014 die Quote erstmals über dem Anteil der Gesamtbevölkerung (15,6 Prozent) stieg. Das waren nahezu 3,5 Millionen Menschen über 65 Jahre.
Wichtig für die Begrifflichkeit: Die Armutsgefährdungsschwelle bewertet die Bedürfnisse der Menschen nach ihren materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen. Es handelt sich um eine relative Armutsschwelle, weil sie immer einen Bezug zur soziokulturellen Entwicklung der Gesamtbevölkerung hat. Die Armutsgefährdungsschwelle beträgt aktuell im Bundesdurchschnitt für Einzelhaushalte 990 Euro.
Soweit die nachvollziehbaren und wissenschaftlich validierbaren Fakten aus realen Entwicklungen (ohne eine Prognoseaussage, dazu weiter unten). Aus diesen Fakten ergibt sich, dass dringender sozialpolitischer Handlungsbedarf gegeben ist.
Das ist für die Verteidiger neoliberaler „Sozial“politik eine Bedrohung, entsprechend wird mit Hilfe der einschlägigen Leitmedien und in politischen Netzwerken Armut weg bzw. klein argumentiert.
Gegenpropaganda der „Arbeitgeber“
Dass der Bundesverband der Arbeitgeber (BDA) gegen Sozialpolitik, die ihnen Kosten verursacht, Position bezieht überrascht nicht. Er betreibt die Gegenpropaganda mit der Methode, Fakten zu Behauptungen = Meinungen zu erklären: „Außerdem müssen – gerade vor dem Hintergrund der behaupteten Zunahme der Altersarmut – weitere Formen der privaten Vorsorge … berücksichtigt werden“. (Rentenpolitisches Grundsatzpapier, Juni 2016)
Noch gröber geht Sozialministerin Andrea Nahles daran, die „behauptete“, wachsende Altersarmut aus der Welt zu schaffen: „Anders als in der Vergangenheit ist Altersarmut in Deutschland heute noch eher ein Randphänomen. Wer im Alter bedürftig ist, wird von der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aufgefangen“. (Nahles-Antwort auf Fragen von rentenpolitikwatch.de vom 10.0. 2016) Nach dieser Definition gibt es in Deutschland keine Armut, weil es ja Sozialhilfe für alle gibt.
Ein sozialdemokratischer Landesparteivorsitzender positionierte sich noch letztes Jahr so: „Die Herabsetzung des (Renten-)Niveaus auf unter 50 Prozent wird vor allem für Menschen mit unteren und mittleren Einkommen problematisch sein und kann so nicht hingenommen werden“. Im Sommer dieses Jahres ging er den AfA-Landesvorsitzenden und DGB-Funktionär dann so an: Er solle nicht übertreiben, die Altersarmut sei nun wirklich nicht so dramatisch wie von den Gewerkschaften behauptet.
Vor wenigen Tagen referierte ein gewerkschaftsnaher Wissenschaftler auf einer ver.di-Tagung über Altersarmut und relativierte über längere Passagen den Altersarmutsbegriff: Wenn die Rentenversicherung für Frauen einen durchschnittlichen Rentenzahlbetrag von 630 Euro auswiesen, heiße das nicht, dass die überwiegende Zahl der Frauen arm seien, weil man ja das Haushaltseinkommen betrachten müsse. Außerdem würden andere Einkunftsarten, z. B. aus Vermögen oder Vermietung, in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Das wurde auch von niemandem in Zweifel gezogen – warum dann diese Betonung?
Auch in gewerkschaftsinternen Diskursen begegnet einem hin und wieder der Einwand, die Armut müsse man ja als eine relative Armut verstehen – auch hier stellt sich einem die Frage, warum diese Selbstverständlichkeit auf einmal „entdeckt“ wird. Es kommt der Verdacht auf, dass man einer SPD-Parteigenossin im Ministeramt keine Schwierigkeiten bereiten will.
Warum wird der gesellschaftliche Skandal der wachsenden Altersarmut so heftig und vielschichtig verleugnet oder ausschweifend relativiert?
Armutsgrenze wird verschoben
Weil dieser Skandal nach politischen Antworten schreit, die den Interessen der Unternehmensverbände und der Versicherungskonzerne diametral entgegenlaufen. Wenn Seehofer und Gabriel sich an einem Tag im April 2016 mit richtigen Aussagen weit aus dem Fenster gelehnt haben, wurden sie schnell durch Politiker aus ihren zweiten Reihen (Straubinger und Nahles) wieder eingefangen. „Wissenschaftliche“ Unterstützung bekamen die Realpolitiker dabei von Bert Rürup. Der ist seit einigen Jahren auf dem Ticket des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) unterwegs.
Völlig ausgeklammert wird der Armutsbegriff, wie er bereits 1984 in einem Ratsbeschluss der Europäischen Union formuliert wurde: Danach gelten Personen als verarmt, „wenn sie über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.“
Auf Grundlage dieser Definition wurde festgelegt, dass eine Person, die weniger als 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens erhält, als armutsgefährdet anzusehen ist. Das Medianeinkommen (Nettobetrag) betrug im Jahr 2014 in Deutschland 19 733 Euro, davon 60 Prozent ergibt eine Armutsschwelle von 11 840 Euro, das entsprechende Monatseinkommen 987 Euro.
Wird dieser Betrag als Armutsgrenze genommen, wird vielen Menschen sehr schnell klar, dass bei Fortwirken der Rentensenkungspolitik und bei Verrentung von Menschen, die längere Zeitabschnitte in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt waren, eine Armutsquote erreicht wird, die 50 Prozent und mehr der Rentnerhaushalte betreffen wird (siehe auch WDR-Studie aus dem April 2016).
Diese Zusammenhänge und Berechnungen sind im Hause der Sozialministerin mit Sicherheit nicht unbekannt. Wieso sie dann in ihrem Antwortschreiben an rentenpolitikwatch.de zu dem „Randphänomen“ der Altersarmen zu der Prognoseaussage kommt „Diese noch relativ kleine Gruppe wird aber unter Umständen wachsen, wenn die Jahrgänge in Rente gehen, die nach der Wende zeitweise arbeitslos waren“, kann man nur noch als Verhöhnung der sozialen Wirklichkeit in diesem Land verstehen.
Es sind gerade solche Verhöhnungen und Kaltschnäuzigkeiten, die Menschen in die Fänge der Rechtspopulisten treibt.