Woche für Woche dauerten die Demonstrationen in Algerien an. Dies änderte sich auch nicht, als am 2. April der bisherige Staatspräsident Bouteflika zurücktrat. Innerhalb von 90 Tagen nach dem Rücktritt sollte der Übergangspräsident Abdelkader Bensalah durch einen neu gewählten Präsidenten ersetzt werden. Die Wahl war für Anfang Juli vorgesehen – jetzt wurde sie verschoben. Es fehlte an Kandidaten.
An den Demonstrationen beteiligten sich zeitweise Hunderttausende. Selbst Richtervereinigungen schlossen sich den Protesten an. Mehrere wohlhabende Geschäftsleute aus dem Umfeld des einstigen Präsidenten sowie frühere Geheimdienstchefs wurden festgenommen. Sie gehörten einmal zu den mächtigsten Männern des Landes.
Eine der Stützen des „Systems Bouteflika“ war die Generalunion der algerischen Arbeiter (UGTA), eine Gewerkschaft, die Mitglied im Internationalen Gewerkschaftsbund ist und dort mit mehr als 2,5 Millionen Mitgliedern geführt wird. Die Proteste gegen Bouteflika richteten sich zunehmend auch gegen die Führung der UGTA. Tausende Gewerkschafter demonstrierten im April vor dem Sitz der UGTA und forderten den Rücktritt des Generalsekretärs der Gewerkschaft, Abdelmadjid Sidi Said.
Unabhängige Gewerkschaften spielen eine Rolle in den Demonstrationen. 13 unabhängige Gewerkschaften hatten im November 2018 einen Dachverband gegründet (Confédération des Syndicats Autonomes – CSA). Sie umfasst Gewerkschaften aus dem Gesundheits- und Erziehungswesen, aber auch die Gewerkschaft der Imame und der Luftverkehr-Techniker. Im Rahmen der Proteste rief die CSA im April zu einem eintägigen Generalstreik auf.
In den letzten Jahren hat eine allmähliche Islamisierung Algeriens stattgefunden. Salafisten treten offen auf, es gibt einen sozialen Druck, in die Moschee zu gehen. Doch in den Protesten hat das kaum Spuren hinterlassen.
Politische Parteien und Demonstranten forderten immer wieder die Verschiebung der Wahlen. Sie bezweifelten, dass eine Wahl unter Kontrolle der Armee und der alten Strukturen fair organisiert würde. Stattdessen sollte in einem nationalen Dialog eine unabhängige Wahlkommission gebildet werden. Am 2. Juni gab der Verfassungsrat den Forderungen der Demonstranten nach: Die für den 4. Juli geplanten Wahlen wurden verschoben – ein Erfolg für die Protestbewegung.
Generalstabschef Gaïd Salah hatte Flexibilität gezeigt. Sein Druck – er hatte öffentlich den Rücktritt von Bouteflika gefordert – beschleunigte den Rücktritt des alten Präsidenten. Als er feststellte, dass frühe Neuwahlen sich nicht durchsetzen lassen würden, beharrte er nicht auf dem Wahltermin. Dennoch behalten Sicherheitsapparat, die Armee und Gaïd Salah noch immer die Kontrolle über den auch in den Augen zumindest von Teilen der Eliten unumgänglichen politischen Übergangsprozess.
Mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation können sie Druck auf die Opposition ausüben. Unterstützung kann Salah bei ausländischen Investoren finden, die – wenn nötig – wegen fehlender „Stabilität“ des Landes in einen Investitionsstreik treten können.
In einer Rede an die Nation wegen der Verschiebung der Wahlen drängte der Übergangspräsident Bensalah auf einen umfassenden Dialog. Doch noch immer gibt es keine klaren Perspektiven der Opposition für die Zukunft Algeriens. Wird es eine Erneuerung der Eliten geben, oder gar ein „Kairo reloaded“, eine offene Machtübernahme der Armee? Oder werden die Proteste die Macht der Eliten nachhaltig schwächen?