Die Kasseler Neonazi-Szene, in der sich der mutmaßliche Mörder Lübckes bewegte, „gehört zum großen Teil zum Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), schätzt Hermann Schaus (Partei „Die Linke“), Obmann des NSU-Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag, gegenüber UZ ein. Der Name des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten, Walter Lübcke (CDU), findet sich laut „Tagesspiegel“ auf einer Liste des NSU.
Aus den Akten war bekannt, dass es in Kassel eine große militante Neonazi-Szene gibt. Der Tatverdächtige Stephan E. war dort gut vernetzt und besuchte regelmäßig das einschlägig bekannte Lokal „Stockholm“. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag befasste sich schon 2015 mit Stephan E. Der V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes (VS), Benjamin Gärtner, hatte vor dem Ausschuss ausgesagt, er kenne „NPD-Stephan“ aus der militanten Kasseler Naziszene. Gärtner wurde vom Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme angeleitet, der am 6. April 2006 im Internetcafé Halit Yozgats anwesend war, als dieser vom NSU ermordet wurde.
Ein 15-seitiger Vermerk einer VS-Mitarbeiterin aus dem Jahr 2009 hatte die Parlamentarier aufmerksam gemacht. In diesem geheimen Papier tauchen mehrere als besonders gewaltbereit eingeschätzte Neonazis aus der Kasseler Szene auf. Stephan E. ragte heraus wegen der dort dargestellten kriminellen Vorgeschichte. Am 21. Dezember 2015 wurde die Mitarbeiterin öffentlich und zu einzelnen Personen unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt. „Die Mitarbeiterin konnte nicht über den Vermerk von 2009 hinaus etwas sagen“, sagt Schaus. Stephan E. sei in weitergehenden Unterlagen des Verfassungsschutzes, die dem Untersuchungsausschuss zugänglich waren, nicht mehr aufgetaucht. Die Spur wurde daraufhin nicht weiter verfolgt.
Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses im hessischen Wolfhagen-Istha niedergeschossen worden. Sein Sohn fand ihn schwer verletzt. In Lübckes Kopf steckte eine Kugel, er starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Mitte 2015 hatte sich der Kasseler Regierungspräsident auf einer Bürgerveranstaltung zu der Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft unter Anfeindungen und Buh-Rufen geäußert: „Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Am 18. Februar griff die ehemalige CDU-Politikerin Erika Steinbach, die heute Vorträge bei der AfD hält, den vier Jahre alten Vorfall wieder auf und hetzte gegen Lübcke auf Facebook.
Die hessische Landtagsfraktion der Partei „Die Linke“ fordert jetzt erneut, Einsicht in alle geheimen Protokolle nehmen zu können, die im Zusammenhang mit dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss entstanden sind. „Außerdem müssen alle Akten, die Stephan E. und sein Umfeld betreffen und dem Ausschuss damals vorgelegt wurden, erneut auf den Tisch“, fordert Schaus. Zudem soll zumindest der allgemeine Teil des Verfassungschutzberichts über die Aufarbeitung der NSU-Akten in den Jahren 2012 bis 2014 öffentlich zugänglich werden. Der gesamte Bericht umfasst über 250 Seiten und ist für die nächsten 120 Jahre gesperrt. Auf Betreiben der Linksfraktion im Hessischen Landtag wurde der 38-seitige allgemeine Teil schon heruntergestuft, ist aber bisher nicht öffentlich zugänglich. „Ich habe eine Reihe von geheimen Akten gesehen, über die ich keine Auskunft geben darf“, sagt Schaus, aber: „Wer ein gesellschaftliches Klima schafft, angeheizt durch die AfD, wo der braune Bodensatz wieder nach oben gespült wird, begünstigt Straftaten, wie den Mord an Walter Lübcke.“