Bis vor einigen Jahren wurden die großen ver.di-Tarifrunden häufig als ritualisiert und von den Beschäftigten als weit weg empfunden. Doch seit etwas über zehn Jahren ist die sogenannte Demokratisierung der Tarifrunden ein Thema in ver.di. Die Beschäftigten werden in der Forderungsfindung, der Gestaltung der Tarifrunden und teilweise auch der Arbeitskampfmaßnahmen stärker eingebunden, ein kontinuierlicher Informationsfluss findet statt. Bei großen Tarifrunden, allen voran im öffentlichen Dienst (TVöD), können sich Beschäftigte als „Tarifbotschafter*innen“ registrieren lassen. Das bedeutet, dass sie direktere und mehr Informationen aus den Verhandlungen bekommen, zum Beispiel durch Videokonferenzen mit den Verhandlungsführungen aus dem ver.di-Bundesvorstand. Dieses Element der Tarifbotschafter wurde zuvor vor allem in Haustarifvertrags-Auseinandersetzungen praktiziert.
Neben positiven Ansätzen und Beteiligungsmöglichkeiten zeigte sich jedoch schnell, wie begrenzt diese Demokratisierung ist. So liegt die Entscheidung über die Tarifforderungen weiterhin in der Hand der Tarifkommissionen und Streikanträge müssen natürlich vom ver.di-Bundesvorstand genehmigt werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sinnvoll ist, grundsätzliche Forderungen oder strategische Arbeitskampffragen in gewählten Gremien zu entscheiden und nicht spontanen Stimmungen zu überlassen. Umso wichtiger ist es, dass die Stimme der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben Gehör findet und berücksichtigt wird.
An dieser Stelle kommen bei ver.di die Mitgliederbefragungen ins Spiel. Gerade wenn es nach mehreren Verhandlungsrunden zu einer Tarifeinigung kommt und noch keine Urabstimmung notwendig ist, greift ver.di zum Mittel der Befragung aller Mitglieder im Tarifbereich. So geschehen gerade nach der Schlichtung im öffentlichen Dienst, deren Ergebnis die Arbeitgeber und ver.di angenommen haben.
Die Mitgliederbefragung gibt den Beschäftigten zwei Antwortmöglichkeiten: Sie können dem erzielten Verhandlungsergebnis zustimmen oder es ablehnen und damit verbunden erklären, dass sie bereit sind, für ein besseres Ergebnis weiter zu streiken. Auf Basis des Resultats der Mitgliederbefragung entscheidet dann die zuständige Tarifkommission, ob der Tarifvertrag abgeschlossen wird – allerdings ohne an das Abstimmungsergebnis gebunden zu sein.
Die Aussagekraft des Ergebnisses einer Mitgliederbefragung steht insbesondere dann in Frage, wenn es keine klaren oder sogar sehr gespaltene Rückmeldungen aus den Betrieben gibt. Dazu kommt, dass die Mitglieder von der Befragung meist erst erfahren, nachdem in den Medien bereits berichtet wurde, dass eine Einigung erzielt ist. Dass es sich um eine Einigung am Verhandlungstisch handelt und noch nicht um ein Tarifergebnis, dieser feine Unterschied verschwimmt häufig – sowohl in der öffentlichen Darstellung wie in der individuellen Wahrnehmung.
Neben dieser Grundinformation, dass die Tarifrunde eigentlich vorbei ist, bekommen die Mitglieder dann Informationen ihrer Gewerkschaft zum erzielten Ergebnis. In der aktuellen Tarifrunde im öffentlichen Dienst stellte ver.di dabei noch deutlicher als sonst heraus, dass „mehr“ mit diesen Arbeitgebern nicht möglich sei beziehungsweise die Gewerkschaft das Mögliche rausgeholt habe. Die Unart aus der Vergangenheit, Tarifeinigungen in Flugblättern und online schönzureden (und vor allem schönzurechnen) hat ver.di nach großer Kritik aus den Betrieben zwar weitestgehend eingestellt, trotzdem wurden natürlich auch hier die Erfolge nach vorne gestellt. Die Darstellung komplexer Detailregelungen wurde zwar versucht, lässt sich aber häufig nicht in der Auswirkung auf die einzelnen Beschäftigten komplett beantworten.
Neben den inhaltlichen Mechanismen führt die Durchführung der Mitgliederbefragung zu einem weiteren Verzerrungsmoment: Mittlerweile ist jedem Mitglied im Tarifbereich möglich, online und damit vom Handy oder vom Schreibtisch zuhause aus abzustimmen. Damit aber wird die Abstimmung dort, wo es keine starken und bewussten ver.di-Strukturen in den Betrieben gibt, zu einem vereinzelten Akt, bei dem das Kreuzchen gemacht wird, ohne dass man vorher mit den Kolleginnen darüber diskutiert hat. Ohne Diskussion im Betrieb ist es jedoch viel schwieriger, den Tarifabschluss zu verstehen und vor allem zu erkennen, was er denn für andere Arbeitsbereiche oder Berufe bedeutet. Es ist dann eine überwiegend individuelle Bewertung.
Was ohne gemeinsame Diskussion – oder auch Streit – über die Tarifeinigung im Betrieb komplett auf der Strecke bleibt, sind die zentralen Fragen: Ist wirklich nicht mehr drin mit diesen Arbeitgebern? Warum eigentlich nicht, wenn doch unendlich Kohle für Aufrüstung und Konzerngewinne da ist? Was für Erfahrungen haben wir in den Warnstreiks gemacht? Was können wir gemeinsam noch tun, damit die Arbeitgeber unsere Forderungen erfüllen? Mit wem müssen wir im Betrieb reden, der vielleicht resigniert hat?
ver.di orientiert trotz des Onlineangebots zur Abstimmung ernsthaft auf eine aufsuchende Mitgliederbefragung im Betrieb und auf aktive Gespräche der Vertrauensleute mit den Mitgliedern. In der aktuellen gesellschaftlichen Situation und unzureichenden Verankerung der Gewerkschaften in vielen Betrieben wird das Ergebnis der Mitgliederbefragung aber immer Richtung Annahme verfälscht sein. Umso mehr gilt es, in den Betrieben die gewerkschaftlichen Strukturen, aber auch in der eigenen Abteilung die Kultur aufzubauen, solche Diskussionen politisch und kollektiv zu führen.
Werden die Mechanismen, die das Befragungsergebnis Richtung Annahme verschieben, berücksichtigt, erscheinen die 66 Prozent Zustimmung zur Tarifeinigung im öffentlichen Dienst nochmal schwächer, als sie es ohnehin schon sind. Umgekehrt heißt es, dass ein Drittel der Befragten weiter streiken wollte für ein besseres Ergebnis. Wie man bei ihnen den Frust über die Annahme der Einigung verhindert und diese Stimmung in den Belegschaften in die notwendigen Kämpfe für Heizung, Brot und Frieden überführt, ist die Herausforderung in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeit dieser Zeit.