Nachdem er vor der Bescherung aus der Bibel gelesen hat, hält der alte Richter im Kerzenschein eine Ansprache. Das „Sinnbild der Heiligen Familie“ erinnere an die zentrale Stellung der Familie, die es zu verteidigen gelte – sonst drohe der „Sturz in den Kollektivismus“. So lässt Franz Josef Degenhardt in seinem Roman „Die Misshandlung“ den Heiligen Abend begehen. Der alte Richter will „den autonomen Bereich des Privaten“ „gegen unnötige Zugriffe des Staates schützen“. Im Roman heißt das: Vertuschen, dass das Ehepaar Radtke den Sohn Stefan über Jahre geschlagen und in einen Verschlag gesperrt hat. Die Eltern waren überfordert, die Behörden griffen nicht ein.
„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern“, legt das Grundgesetz in Artikel 6 fest. Es hat „die Rolle der Familie ungewöhnlich stark gemacht“, schreiben die Bildungsforscher Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen. Bildung, Erziehung und Versorgung der Kinder als gesellschaftliche Verantwortung? Kitas und Schulen „werden damit in den Rang von Hilfseinrichtungen gestuft“. Für Hurrelmann und Dohmen hängt mit diesem Verständnis der Familie „wesentlich zusammen“, dass in Deutschland die Bildungschancen „besonders stark“ von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen.
Das Klischee von der bürgerlichen Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“, deren Freiheit es in unserer Offenen Gesellschaft zu schützen gelte, liefert die ideologische Rechtfertigung für Verhältnisse, in denen Familien eben selbst sehen müssen, wo sie bleiben.
Die Armutsforscher Christoph und Carolin Butterwegge erinnern im Interview mit der „Rhein-Neckar-Zeitung“ daran, dass es in Deutschland so viele reiche Kinder gibt wie noch nie: Unternehmer können Erbschaftsteuern sparen, wenn sie ihr Vermögen an ihr Neugeborenes überschreiben. Die Helikopter-Eltern aus den Mittelschichten schaffen es vielleicht, den Nachwuchs fit für die Konkurrenz zu machen. Für die Kinder der Arbeiterklasse heißt die Freiheit, die die bürgerliche Gesellschaft ihren Familien garantiert: Über 20 Prozent der Kinder gelten als arm. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung kommt zu dem Schluss: Sie werden es bleiben – „für Personen aus den unteren sozialen Lagen sind die Aufstiegschancen seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken“. Damals seien 40 Prozent der Armen fünf Jahre später immer noch arm gewesen. Heute seien es 70 Prozent.
Es ist nicht die Pandemie, die Kinder ärmer gemacht hat, Bildungschancen ungleicher und psychische Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen häufiger. Es ist die Politik, mit der Bundes- und Landesregierungen der Pandemie begegnet sind. Das Chaos, für das schlecht vorbereitete Lockdown-Beschlüsse in Schulen und Kitas gesorgt haben, mag eine Ursache darin haben, dass vor der Bundestagswahl und während der Kandidatenkämpfe die Ministerpräsidenten lieber abwarten wollten. Es liegt dennoch auf der Linie der freien und geschützten Familie: Kümmert euch eben eigenverantwortlich – ob ihr im Hochhausblock oder im Einfamilienhaus wohnt, ob ihr die von der Regierung angebotenen Kinderkrankentage nehmen könnt oder nicht, ob ihr dem Kind bei den Schulaufgaben helfen könnt oder nicht.
In Degenhardts Roman soll die Kindesmisshandlung heruntergespielt werden, weil Bundesregierung und Konzernmedien gerade die DDR für angebliche Zwangsadoptionen angreifen – hier die freie Gesellschaft, dort der menschenrechtsverachtende Kommunismus. Dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Eltern überfordern, Menschen verrohen und Behörden versagen lassen, ist für den alten Richter die Propaganda der Zersetzung. Als Ausweg zeigt Degenhardt die Solidarität und Selbsthilfe derjenigen, die unter diesen Verhältnissen leiden und beginnen, dagegen zu kämpfen. Im Großdeutschland 31 Jahre nach der Konterrevolution ist diese Perspektive schwer zu sehen. Realistischer als die Hoffnung, dass eine neue Bundesregierung es besser machen wird, bleibt sie trotzdem.