Konrad Lotter untersucht den Begriff des Humanismus

Alles hinterfragen

Die Frage, die Konrad Lotter in seinem Buch untersucht, führt unmittelbar zu den Grundlagen des Menschseins. Dabei ist zu bemerken, dass er dem bekannten Begriff des Humanismus ein Adjektiv voranstellt, was offensichtlich daran liegt, dass es eben doch nicht so einfach ist mit der Interpretation des begrifflichen Inhalts.

Dafür, dass Menschen in der Lage sind, gemeinschaftlich Probleme zu lösen und damit in Auseinandersetzung mit der Natur ihre Lebensbedingungen peu à peu zu verändern, ist eine komplexe Kommunikation notwendig – und dafür wiederum ist Sprache unabdingbar. Der „Mechanismus“ ist: erkennen, Denken (Begriffsbildung) und dann Kommunikation und Handeln. Die formulierten Begriffe werden allgemein anerkannt, wenn sie in ihrer Ausdeutung akzeptiert werden. Das ist für alltägliche Dinge – Essen, Trinken, Hammer und so weiter – relativ einfach. Bei komplexen Begriffen – hier dem des Humanismus, hinter dem eine bestimmte Denk- und Betrachtungsweise steckt – braucht es schon etwas mehr Erklärung zur Widerspiegelung der Wirklichkeit.

Lotter beginnt mit der Spurensuche in der Herkunft des Begriffs aus dem Lateinischen – „Humanitas“ meint dort soviel wie Mitmenschlichkeit oder Wohlwollen. Gleichzeitig gilt der lateinische Terminus als Übersetzung des altgriechischen Wortes „philantropia“, das bedeutet Menschlichkeit. Man kann es auch als dem Menschen gemäßes, auf Vernunft beruhendes Handeln interpretieren. Allerdings hatte die Sache auch einen Haken, denn als Menschen wurden nur solche gleicher Kulturstufe betrachtet – Sklaven und „Barbaren“ gehörten nicht dazu.

Lotter führt uns dann im Parforceritt durch die Geschichte, die auch eine Geschichte der Ausdeutung des Begriffs ist: in der Renaissance als Befreiungsbegriff von der Religion, ein paar hundert Jahre später als Argument für die Religion. Erst die uns bekannten bärtigen Herren aus dem 19. Jahrhundert, so Lotter, haben den Humanismusbegriff umfassend verwendet, weil sie die Menschen als gesellschaftliche Wesen in der Gesamtheit ihrer Beziehungen untereinander sowie im Austausch mit der Natur betrachtet haben.

Den letzten Teil seiner Arbeit widmet der Autor vielem Heutigen, welches seine Wurzeln unmittelbar in der Herausbildung des modernen Kapitalismus hat, etwa die scheinbare „Enthumanisierung“ der Arbeit durch technischen Fortschritt und Hochtechnologie.Weiter geht es damit, dass entfremdete Arbeit krank machen kann, gleichzeitig aber auch das Gesundheitswesen nicht nur weiter technisiert, sondern vor allem ökonomisiert wird. So wie die Produktion im Kapitalismus nicht an menschlicher Bedürfnisbefriedigung, sondern am Profit orientiert ist, verhält es sich eben auch beim Gesundheitswesen. Die große Frage ist‚ ob der Begriff des „realen Humanismus“ ausreicht, um die gegenwärtig tendenziell immer inhumaneren Lebensbedingungen abzubilden und die Menschen herausfordert, aktiv dagegen etwas zu unternehmen. Auf jeden Fall zeigt Lotter am untersuchten Begriff, dass es immer wieder notwendig ist, philosophische und auch politische Begriffe hinsichtlich ihres gegenwärtigen Inhalts und Gebrauchs zu hinterfragen – in Zeiten von allwissenden Suchmaschinen mehr denn je. Eine klare Leseempfehlung!


Konrad Lotter
Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung
Mangroven Verlag, Kassel 2024, 268 Seiten, 25,00 Euro


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"Alles hinterfragen", UZ vom 28. Juni 2024



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