Es war nicht einfach dahingeplappert, als Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU, Ende September gegenüber „Welt-TV“ formulierte: „Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen.“ In voller Absicht spitze er zu: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“
Danach gab es viel Aufregung im Blätterwald, durch die die Aussagen in jeden Winkel politischer Debatten dringen konnten. Sanft war die Rüge des Kanzlers gegenüber seinem derzeitigen Herausforderer: „Was Herr Merz vorgetragen hat, entspricht nicht der rechtlichen Lage in Deutschland. Ich finde, dass man besser auf seine Worte aufpassen sollte.“ Das war eine deutliche Absetzbewegung gegenüber seinem eigenen Gesundheitsminister, der am selben Tag in der „Bild“-Zeitung verlauten ließ, die Äußerung sei „infam“. Merz tue so „als würden die Menschen eine Flucht vortäuschen, um sich in Deutschland die teure Zahnbehandlung zu erschleichen“. Im gleichen Atemzug zündelte er munter mit, es gäbe in Deutschland „keine Terminnot bei Dentisten“.
Wenn dem so ist, liegt das am ehesten daran, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung eine Zahnbehandlung nicht mehr leisten kann. Bei anderen Fachärzten ist die Terminnot groß. Lange Wartezeiten oder Praxen, die keine Patienten mehr aufnehmen – das sind die Erfahrungen von Millionen Menschen im Lande – und damit entlarven sich der Sinn des CDU-Manövers und der recht sanften Reaktion des deutschen Regierungschefs. Ganz offensichtlich zerfallen gegenwärtig die Infrastruktur und die soziale Versorgung in diesem Lande: Züge fahren verspätet oder gar nicht mehr, Schulen rotten vor sich hin, der Gesundheitsminister appelliert an Eltern, doch bitte keine Kindermedizin zu horten, weil sonst Engpässe bei Antibiotika oder Fiebersäften entstehen könnten – für all das werden Schuldige gesucht und sind nun mit den 300.000 Ausreisepflichtigen gefunden, auf die der Volkszorn gelenkt werden soll.
Die Empörungsrituale aus dem Regierungslager dienen – das ist der zweite Aspekt – dazu, die Debatten in Deutschland von der Kriegsfrage in altvertraute Linien zwischen den alten politischen Lagern zurückzulenken und so zu verwischen, dass der Zerfall der Infrastruktur und die Überforderung des Gesundheitswesens so gut wie nichts mit den Flüchtenden und so gut wie alles mit dem Kriegskurs der Regierenden zu tun hat – die Zustimmung des Gesundheitsministers Karl Lauterbach zur Zertrümmerung des Etats seines Ministeriums in den laufenden Haushaltsberatungen eingeschlossen.
„Die Reihen sind geschlossen“, verkündete die „Bild“ mit Blick auf die CDU. Klartext sprach der Vorsitzende des Zusammenschlusses konservativer Parteien im EU-Parlament, Manfred Weber: „Friedrich Merz spricht das an, was die Menschen auf der Straße sprechen. Wenn ich im Wahlkampf in Bayern unterwegs bin, sind das die Themen, die die Leute interessiert und bewegt.“ Die Wahl am 8. Oktober bewegt auch ihn – er ist im Nebenjob stellvertretender Vorsitzender der CSU, der bei diesen Wahlen durch gleich zwei Konkurrenten von rechts zur Zeit das Wasser bis zum Hals steht. Damit liegt der dritte Aspekt für das gegenwärtige Wettrennen um die Rechtsaußen-Position auf der Hand: Es geht darum, die von allen Parteien im Bundestag durch die Kriegserklärung gegen Russland eingeleitete massive Rechtsentwicklung fortzusetzen. Dabei sollen die bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den Parlamentsparteien möglichst aufrechterhalten werden. Sollte das nicht gelingen, winkt als B-Lösung die in Thüringen schon einmal angetestete Koalition aus CDU, FDP und AfD.