Britannien: Gewerkschaften kündigen Streiks für Weihnachtszeit an

Alle in den Ausstand

Auf der Schiene, im Gesundheitswesen, bei der Post, am Flughafen oder am Grenzübergang – in den kommenden Wochen streiken mit 1,5 Millionen Beschäftigten aus verschiedenen Branchen in Britannien voraussichtlich so viele wie dem „Guardian“ zufolge zuletzt 1926 beim ersten und einzigen Generalstreik.

Betroffen ist vor allem der Öffentliche Dienst. Dies ist umso bemerkenswerter, als für „wichtige öffentliche Dienste“ noch strengere Bestimmungen als ohnehin gelten, um überhaupt in den Ausstand treten zu können. 40 Prozent aller Wahlberechtigten müssen sich für den Streik aussprechen, also in der Regel deutlich mehr, als wenn es lediglich der Mehrheit der abgegebenen Stimmen bedürfte. Dass dennoch in so vielen Bereichen gestreikt wird, zeugt von der Wut der Beschäftigten, aber auch ihrer Not angesichts der steigenden Preise. Es verwundert kaum, dass parallel zu den Streiks Proteste gegen steigende Mieten und hohe Energiepreise stattfinden. Einer Studie der Bevan Foundation zufolge werden Haushalte in Wales rund 5.000 Pfund (etwa 5.800 Euro) schlechter dastehen als im vergangen Jahr. Landesweit müssen angesichts der gestiegenen Preise bereits jetzt zwei Drittel der Angestellten im Gesundheitswesen zwischen Essen und Benzin wählen. 14 Prozent der befragten NHS-Beschäftigten besuchen inzwischen die Tafeln. Dennoch liegen die Angebote an die Gewerkschaften im einstelligen Prozentbereich und damit weit unter der weiterhin zweistelligen Inflationsrate.

In der vergangenen Woche streikten bereits Postangestellte, Lehrer und die Dozierenden der Universitäten. Die Gewerkschaft UCU begründete die Streiks der Hochschulbeschäftigten mit dem Reallohnverlust von über 25 Prozent seit 2009, doch dies ist nur ein Beispiel für die Entwicklung der letzten Jahre. Die Bahnangestellten treten neben vier bereits geplanten Streiktagen jetzt auch über Weihnachten in den Ausstand, eine geplante Überstundensperre von rund zwei Wochen über den Jahreswechsel findet dagegen nicht statt. Die Abstimmung über das Angebot von 4 Prozent mehr Lohn bei Aufgabenausweitung und zusätzlicher Sonntagsarbeit läuft noch bis kommenden Montag, die Bahngewerkschaft RMT plädiert jedoch für Ablehnung. Die Pflegenden im nationalen Gesundheitssystem NHS planen – nach einem Angebot von nur 3 Prozent Lohnsteigerung – zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte ihrer Gewerkschaft im Dezember zwei Streiktage. Diese sollen mit dem Ausstand der Ambulanzdienste koordiniert werden, um einen größeren Effekt zu erzielen. Auch die für die Postangestellten zuständige Gewerkschaft CWU hat bereits weitere Streiks angesetzt, darunter ebenfalls an Weihnachten. Für diesen Freitag hat sie „die größte Streikdemonstration, die dieses Land jemals gesehen hat“, angekündigt.

Doch auch die Gegenseite ruht nicht. Dies reicht von verbalen Attacken bis zur Bereitschaft, Soldaten als Sanitätsdienst oder für streikende Grenzbeamte einspringen zu lassen. Neben erwartbaren Vorwürfen zur Diskreditierung der Streikenden, etwa dass Streiken in der Weihnachtszeit doch nicht angehe, treiben die Angriffe auch seltsame Blüten: Nadhim Zahawi, Minister ohne Zuständigkeitsbereich und Chairman der Konservativen Partei, warf den Pflegenden vor, mit ihrem Streik den Westen zu spalten und damit Putin zu unterstützen. Wie der „Morning Star“ kommentierte, ist dies am Ende jedoch nicht überraschend, muss doch die Ruhe an der Heimatfront hergestellt werden. Einem Bericht des „Guardian“ zufolge beschwerte sich Labour denn auch bei der Regierung, die Armee könnte durch das Einspringen für Grenzbeamte von entscheidenden Aufgaben abgelenkt werden, wie der Grenzsicherung in Estland gegen Russland.

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"Alle in den Ausstand", UZ vom 9. Dezember 2022



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