Der Kontrast zwischen der Menschenfeindlichkeit der Polizisten und der Wärme, die die Sozialarbeiter ausstrahlen, drängt sich Beobachtern des Strafprozesses gegen fünf der Polizisten, die an dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt beteiligt waren, immer wieder auf. Mitunter manifestiert er sich an einem einzigen Prozesstag, dann wieder braucht es zwei Prozesstage, damit er deutlich wird.
In diese zweite Kategorie fällt der 16. Verhandlungstag am 20. Juni. Am vorangegangen Prozesstag, am 14. Juni, hatte sich mit Pia Katharina B. die letzte der fünf Angeklagten zu Wort gemeldet. Kein Wort des Bedauerns über den Tod Mouhamed Dramés war über ihre Lippen gekommen. Damit ist sie nicht allein: Bis auf Fabian S., den mutmaßlichen Todesschützen, hat keiner ihrer Kollegen Mitgefühl für Mouhameds Familie ausgedrückt, weder die auf der Anklagebank noch die im Zeugenstand.
Am 16. Prozesstag stand der Mensch Mouhamed Lamine Dramé im Mittelpunkt. Eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychologie hatte den 16-jährigen aus Senegal am Tag vor dessen Erschießung psychologisch begutachtet und berichtet davon im Zeugenstand. Ein behandelnder Notarzt schildert die medizinische Versorgung des Jugendlichen, nachdem der von der Polizei niedergeschossen worden war. Und eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes des Rhein-Pfalz-Kreises erzählt vom Menschen Mouhamed – und davon, wie sie ihn auf eigenen Wunsch hin in Dortmund unterbrachte.
Frau Z. heißt die Sozialarbeiterin. Sie kannte Mouhamed Dramé länger als irgendjemand sonst im Saal 130 des Landgerichts Dortmund, in dem der Prozess seit Ende Dezember stattfindet – abgesehen von Mouhameds Brüdern Sidy und Lassana, die als Nebenkläger teilnehmen. Allerdings habe sie bis auf eine kurze Begegnung nur telefonischen Kontakt zu Mouhamed gehabt, erzählt sie, dass sei der Corona-Pandemie geschuldet gewesen.
Knapp über drei Monate war Mouhamed in Deutschland, bis er von der Polizei erschossen wurde. Im April 2022 hatte er sich bei der Polizei in Worms gemeldet. So kam er in Kontakt zu Frau Z., die ihn im Clearinghaus Zornheim unterbrachte. Sie ist beim Sozialdienst für unbegleitete minderjährige Geflüchtete zuständig.
Mouhamed sei ein passionierte Fußballspieler gewesen, erzählt Frau Z. Wenigstens drei Mal sei der „abgängig“ gewesen – er habe sich auf den Weg nach Dortmund gemacht, wenngleich er es nicht immer so weit geschafft habe. „Er hat gesagt, er will den BVB spielen sehen“, sagt Frau Z. Weil er unbedingt nach Dortmund wollte, habe sie sich umgeschaut und dort eine Unterbringung für ihn gefunden. Er habe getanzt vor Freude, habe ihr seine Betreuerin berichtet.
Frau Z. charakterisiert Mouhamed Dramé als jungen, freundlichen Menschen, der sehr lebensfroh gewesen sei. „Alle haben über Mouhamed Lobeslieder gesungen“, berichtet sie. Das sei erst „gekippt, als er in Dortmund war“. In Konfliktsituationen habe sich Mouhamed zurückgezogen. Andere Jugendliche hätten ihr berichtet, Mouhamed sei „sehr gläubig“ gewesen.
Sie spreche Schulfranzösisch, sagt Frau Z., so habe sie sich mit dem Jugendlichen verständigen können. Ob Mouhamed Dramé ein paar Brocken Deutsch gesprochen habe, fragt sie der Vorsitzende Richter Thomas Kelm. „Nein“, sagt Frau Z., „da war gar nicht dran zu denken.“
Kurz vor der Erschießung Mouhameds muss Frau Z. noch mit ihm telefoniert haben. Der Anlass sei gewesen, dass es ihm „nicht so gut“ gegangen sei. Sie habe das für die „übliche Verunsicherung an einem neuen Ort“ gehalten. An das Gespräch könne sie sich noch sehr gut erinnern. Er solle sich nicht beunruhigen, habe sie ihm gesagt. Nächste Woche beginne die Schule. Er solle sich melden, wenn er Hilfe benötige, sie würde im ihm Notfall auch einen Dolmetscher organisieren. Sie habe noch mit einer Erzieherin der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt gesprochen, in der Mouhamed untergebracht war. Die habe ihr Gespräch kurz unterbrochen und gesagt: „Mouhamed, das legst du bitte weg.“ Sie habe sich erkundigt, was er weglegen solle. „Das Messer“, habe die Antwort der Erzieherin gelautet.
Mouhamed habe ihr gesagt, er habe keine Familie mehr, seine Eltern seien gestorben. Das entspricht nicht der Wahrheit – seine Eltern leben beide noch, und mehrere seiner Geschwister. Vielleicht hat Mouhamed die Unwahrheit gesagt, um seine Chancen auf Asyl in Deutschland zu steigern. Die stehen schlecht für senegalesische Staatsbürger.
Mouhamed sei mit einem Cousin über das Mittelmeer geflohen und über Spanien und Frankreich nach Deutschland gekommen, sagt Frau Z. Einem Bericht des „Spiegel“ zufolge nahm Mouhamed möglicherweise die noch gefährlichere Atlantik-Route über die Kanarischen Inseln. Eine große Narbe in Mouhameds Nacken stamme von einem Vorfall in Marokko, vermutet Frau Z.
Der Verteidiger von Jeannine Denise B., Lars Brögeler, fragte Frau Z., ob Mouhamed Dramé „mit dem Gesetz in Konflikt“ gekommen sei. „Nein“, stellte Frau Z. klar, er sei höchstens schwarzgefahren. Brögeler wollte dann noch wissen, wie die „Rückführungen“ durch die Polizei vonstatten gegangen seien. „Meistens kam er selbst zurück“, antwortete Frau Z., weshalb Brögeler noch einmal nachbohrte – wie denn solche Rückführungen grundsätzlich liefen? Streifenpolizisten führten die durch, erklärte Frau Z.
Diese Fragen zeigen die Taktik der Strafverteidiger, die rassistisch und unbeholfen wirkt: Sie besteht in der Behauptung, die Eskalation der statischen Lage durch die Polizei – Mouhamed lehnte in einer Mauernische in einem geschlossenen Innenhof und hielt sich, wohl in suizidaler Absicht, ein Küchenmesser an den Bauch – habe dem Schutz Mouhamed Dramés gedient. Und in diversen Versuchen, die Person Mouhameds zu desavouieren: Er habe vielleicht doch Deutsch gesprochen, sei womöglich kriminell gewesen, vielleicht älter als 16.
Man hat den Eindruck, es mache die Verteidiger wütend, dass ihre Versuche, Mouhameds Ansehen in den Schmutz zu ziehen, außerhalb der Springer-Presse bislang nirgendwo verfangen haben. Brögeler jedenfalls hat sich schon mehrfach zu unprofessionellem Verhalten hinreißen lassen, etwa am 14. Prozesstag, als er einen Journalisten beschimpfte und „die Medien“ generell kritisierte.
Zwei Tage vor seiner Erschießung durch die Polizei hatte Mouhamed Dramé sich selbst hilfesuchend an eben jene gewandt. Er war nachts auf der Wache Nord vorstellig geworden und hatte dort geduldig gewartet, bis sich Beamten um ihn kümmerten und zur Dortmunder LWL-Klinik bringen ließen.
Dort arbeitet Frau W. als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie sagt an diesem 16. Prozesstag als erste Zeugin aus. Sie ist 60 Jahre alt, wirkt erfahren, spricht ruhig und selbstsicher. Die ärztliche Schweigepflicht gelte über den Tod des Patienten hinaus, weiß Frau W. Sie habe sich aber zur Zeugenaussage entschieden, weil sie es für den mutmaßlichen Willen Mouhamed Lamine Dramés halte, dass seine Familie über sein Schicksal informiert werde.
Frau W. hat Notizen mitgebracht, die ihr als Gedächtnisstütze dienen. In der Nacht vom 6. auf den 7. August 2022 habe sie Mouhamed telefonisch vom aufnehmenden Arzt übernommen. Der Jugendliche sei mutmaßlich suizidal, wurde ihr mitgeteilt. Hinweise auf suizidale Handlungen habe es nicht gegeben. Mouhamed sei die Nacht hindurch intensiviert beobachtet worden und habe die ganze Nacht geschlafen. Am Morgen des 7. August sei sie zu ihm ins Zimmer gegangen. Ihr Patient habe wach und orientiert gewirkt, habe sich freundlich und kooperativ verhalten. Auf sie habe Mouhamed „reif und autonom“ gewirkt. Etwa eine Stunde habe man auf den Dolmetscher warten müssen.
Mouhamed habe dann von lebensmüden Gedanken berichtet, aber nicht von suizidalen Handlungen. Er habe geklagt, schlecht schlafen zu können, habe ständig an seine Familie denken müssen. Der Schlafmangel, sagt Frau W., könne Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung sein. Auf Nachfrage bestätigt die Ärztin, dass Mouhamed eine Narbe im Nacken gehabt habe.
Sie habe keine Hinweise auf psychotrope Substanzen wahrgenommen, „kein wahnhaftes Erleben, keine Denkprobleme“ festgestellt. Mouhamed habe ihr gesagt, er sei nicht mehr in einer Krise und wolle sich nicht umbringen. Er habe den Wunsch geäußert, zurückzukehren in sein Zimmer in der Jugendhilfeeinrichtung und perspektivisch in seine Heimat Senegal. Eine weitergehende Behandlung wäre eine freiheitsentziehende Maßnahme gewesen, sagt Frau W. Sie habe deshalb über ambulante Hilfsangebote mit ihm gesprochen und habe ihn per Taxi zurück in die Jugendhilfeeinrichtung geschickt. Weil Mouhamed sich einen festen Ansprechpartner in der Jugendhilfeeinrichtung gewünscht habe, habe sie mit der Einrichtung telefoniert.
Der Junge habe viel über sich und seine Familie erzählt, berichtet Frau W. Er sei über mehrere Länder aus Senegal geflüchtet und wolle in seine Heimat zurück. Frau W. wirkt nicht, als wiederhole sie sich unnötig – diesen Punkt möchte sie betonen.
Der Verteidiger des Einsatzleiters Thorsten H., Michael Emde, fragt Frau W., ob sie sich Gedanken darüber gemacht habe, möglicherweise eine falsche Diagnose gestellt zu haben. Frau W. lässt sich nicht provozieren. „Dazu möchte ich keine Angaben machen“, antwortet sie ruhig und bestimmt.
Der zweite der drei Zeugen, die an diesem 16. Prozesstag aussagen, ist ebenfalls Arzt. Notarzt allerdings, damals im Einsatz als Assistenzarzt der Feuer- und Rettungswache 1 in Dortmund. Er heißt Herr M. und ist 32 Jahre alt. Einen Doktortitel habe er, sagt er Richter Kelm auf Nachfrage, doch sei der in Deutschland nicht anerkannt. Er sei an jenem 8. August 2022 wegen eines Suizidversuchs gerufen worden, unterwegs habe es dann aber geheißen, es seien Schüsse gefallen. Als er am Tatort ankam, habe sich Mouhamed Dramé bereits im Rettungswagen befunden. Erste Hilfe sei geleistet worden, der Patient habe sich allerdings „ziemlich aggressiv und wehrig“ verhalten.
Ob dieses Verhalten damit zusammenhängen könnte, dass Mouhamed gerade mit Pfefferspray angegriffen worden war, zweimal getasert und mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole durchsiebt worden war – diese Frage scheint sich Herr M. nicht zu stellen. Keiner der Prozessbeteiligten fragt danach.
Einer der Schüsse hatte Mouhamed Dramé in den Bauch getroffen. Richter Kelm fragt nach: Ob es richtig sei, dass diese Schussverletzung zunächst nicht feststellbar gewesen sei, weil Mouhamed von Polizisten festgehalten wurde? „Das ist richtig“, bestätigt Herr M. Der Niedergeschossene habe „nur unverständliche Laute“ von sich gegeben.
Mehrere Polizisten hatten ausgesagt, Jeannine Denise B. habe womöglich nicht richtig getroffen mit dem Pfefferspray. Herr M. sagt, Mouhameds Augen seien rot gewesen. Ein Hinweis darauf, dass Mouhamed doch getroffen wurde mit dem Reizgas?, fragt Richter Kelm. Das könne sein, räumt M. ein. Gerochen habe er das Spray nicht. Kelm erinnert den Zeugen daran, dass er bei seiner polizeilichen Vernehmung angegeben hatte, eine FFP-2-Maske getragen zu haben während des Einsatzes.
Die Vitalwerte Mouhamed Dramés seien anfangs stabil gewesen, sagt Herr M., er habe nur „ein bisschen Sauerstoff“ gebraucht. Man habe entschieden, den Patienten möglichst schnell ins Krankenhaus zu bringen. Dessen innere Verletzungen habe er ja nicht beurteilen können, weshalb der Tod Mouhameds ihn überrascht habe. Dramés Gesundheitszustand habe sich in der Notaufnahme massiv verschlechtert.
Der Prozess wird am 5. Juli fortgeführt.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.