Gewerkschaft für Waffenlieferungen: Zur Debatte auf dem ver.di-Bundeskongress

Alle für den Frieden?

Vom 17. bis 22. September tagte der 6. ver.di-Bundeskongress. Die Delegierten beschlossen den Leitantrag E 084 („Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“). Damit bricht ver.di mit bisherigen gewerkschaftlichen Friedenspositionen, spricht sich für Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland aus. Wir sprachen darüber mit Christof Ostheimer, ver.di-Friedensaktivist und Delegierter des Landesbezirks Nord.

UZ: Der Leitantrag „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ hat schon vor dem ver.di-Bundeskongress Debatten und Kritik ausgelöst. Viele werten diesen Beschluss als Neuausrichtung der Gewerkschaft in der Friedensfrage, weil darin Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet befürwortet werden, um ein Beispiel zu nennen. Wie ist deine Einschätzung?

Christof Ostheimer: In Teilen handelt es sich um eine Neuausrichtung, weil sich der 6. Bundeskongress der „Kriegspolitik“ der Bundesregierung leider nicht verweigert, sondern eher angeschlossen hat. Diese Politik ist gekennzeichnet vor allem durch Maßnahmen eines Wirtschaftskrieges und der Lieferung von Kriegsgerät in diesem Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland in und um die Ukraine. Dieser seit mehr als sieben Jahren geführte Krieg wird im westlichen Narrativ als „russischer Angriffskrieg“ – ohne die Vorgeschichte der ökonomischen und militärischen Expansion des sogenannten Westens – „erzählt“, was sich leider auch im Leitantrag (E 084) des Bundesvorstandes als Framing wiederfindet. Dem sind antimilitaristische Friedenspositionen unserer Gewerkschaft zum Opfer gefallen.

UZ: Es gab zahlreiche Änderungsanträge, die zum Ziel hatten, einzelne Aussagen im Leitantrag zu verändern. Die Frage der Sanktionspolitik konnte auf dem Bundeskongress noch diskutiert werden, der Rest – darunter die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand – konnte nach einem Mehrheitsbeschluss zur Geschäftsordnung (GO) nicht mehr diskutiert werden. Es wurde ein Ende der Debatte und Blockabstimmung beschlossen. Einzelne Delegierte zeigten sich sehr frustriert darüber. Wie bewertest du dieses Vorgehen?

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Christof Ostheimer beim Antikriegstag 2023 in Neumünster. (Foto: Almut Auerbach)

Christof Ostheimer: Die Änderungsanträge, die von friedensbewegten Delegierten vorbereitet und eingebracht wurden, basierten sämtlich auf in den Jahren 2022 und 2023 gefassten Beschlüssen von (Landes-)Bezirken, Fachbereichen und Personengruppen. Sie waren Ausdruck eines demokratischen Willensbildungsprozesses in unserer Gewerkschaft, der durch diese zwei GO-Anträge brutal gestoppt wurde. Dies erklärt die in persönlichen Erklärungen zum Ausdruck gebrachte „Frustration“ einzelner Delegierter, zu denen auch ich gehörte.

UZ: Befürworter des Leitantrags haben überwiegend sehr allgemein und nach meinem Eindruck sehr moralisch argumentiert. Es war in mehreren Redebeiträgen vom „Monster Russland“ oder auch „Monster Putin“ die Rede, das mit allen Mitteln bekämpft werden müsse und mit dem nicht verhandelt werden könne. Das klingt in meinen Ohren nach Kriegsrhetorik. Für dich überraschend, solche Äußerungen auf einem Gewerkschaftskongress zu hören?

Christof Ostheimer: Erschreckend, dass diese Reden insbesondere von jugendlichen Kolleginnen und Kollegen gehalten wurden. Es gab aber genauso ausgesprochen regierungskritische Beiträge aus der ver.di-Jugend, die ich als „Friedensrhetorik“ bezeichnen würde: Reden gegen weitere Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet, gegen Sanktionen, die die „Ruinierung Russlands“ zum Ziel haben, für das Beenden des Tötens durch einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien.

In meinem letzten Debattenbeitrag habe ich mich gegen die „Dämonisierung des Gegners“ gewandt, die ja schon immer der Herstellung von Kriegsbereitschaft in der eigenen Bevölkerung diente und offensichtlich auch in diesem Konflikt wieder dient. Mir wurde unter dem Beifall vieler Delegierter geantwortet, dass es sich bei dem „Kriegsverbrecher Putin“ doch tatsächlich um einen Dämon handele. Diese Reaktion auf meinen Hinweis zu den Methoden der psychologischen Kriegsführung zeigt schon sehr viel. Tragisch finde ich, dass insbesondere junge Menschen, die möglicherweise bald selbst in den Krieg gegen das „Monster“ geschickt werden, dieser Kriegspropaganda erliegen.

UZ: Du hast nach dem Bundeskongress gemeinsam mit anderen friedensbewegten Delegierten kritisiert, dass kein wirklicher Konsens in der Friedensfrage hergestellt wurde. Aus dem ver.di-Bundesvorstand und von der Kongressleitung war immer wieder zu hören, dass man sich zwar über den Weg streite, aber letztendlich ja alle für Frieden seien.

Christof Ostheimer: Niemand ist „für Krieg“, alle sind natürlich „für Frieden“. Ich unterstelle niemandem in unserer Gewerkschaft, auch den Autoren und den Befürwortern des Leitantrages nicht, dass sie diesen und alle anderen Kriege nicht ablehnen und ein baldiges Ende herbei sehnen. Sie glauben tatsächlich, dass sich das „Monster“ nur unter dem Eindruck militärischer Siege und anderer Zwangsmaßnahmen aus der Ukraine zurückziehen und vor weiteren Versuchen, die „Grenzen Russlands immer weiter nach Europa zu verschieben“, abhalten wird.

Es ist dieses „Framing“, das einen Konsens in der Friedensfrage unmöglich machte. An der Widerlegung des NATO-Narrativs muss in den Gremien auf allen Ebenen unserer Gewerkschaft gearbeitet werden. Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir Gewerkschaft und Friedensbewegung wieder zum gemeinsamen Handeln für Frieden zusammenbringen wollen. Und dafür gibt es konkrete Anknüpfungspunkte, auch im gerade beschlossenen Leitantrag E 084.

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Friedensprotest während der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem ver.di-Bundeskongress. (Foto: Johannes Hör)

UZ: Wo siehst du diese konkreten Anknüpfungspunkte im Leitantrag?

Christof Ostheimer: Im Auftrag einiger friedensbewegter Delegierter habe ich sofort nach dem Bundeskongress an Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat geschrieben und folgende friedenspolitische Agenda vorgeschlagen: Mit Briefen an Bundesregierung und Bundestagsfraktionen sowie einer Presseerklärung die Ablehnung der „Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine“ deutlich zu machen, weil dadurch „Deutschland immer mehr zur Kriegspartei“ würde und „das Wohl der eigenen Bevölkerung nicht gefährdet werden darf“ (siehe Zeilen 36 ff des Antrags E 084). Darüber hinaus offensiv in die Debatte um Sanktionen gegen Russland einzugreifen, um insbesondere zu verhindern, dass „Sanktionen, die in erster Linie die breite Bevölkerung treffen“, weiter angewendet beziehungsweise neu beschlossen und verhängt werden. Dabei ist deutlich zu machen, dass eine „Perspektive, die die russische Wirtschaft dauerhaft schädigen will“, von ver.di ausdrücklich abgelehnt wird (siehe Zeilen 28 ff).

Wir sollten gemeinsam mit der GEW dafür sorgen, dass die „Kooperation von Schulen und Bundeswehr“ beendet wird (siehe Zeile 83 und 84) und im Rahmen der Friedensbewegung (siehe Zeile 169) bei den bevorstehenden Aktionen und Demonstrationen am 3. Oktober und am 25. November – das ist der Samstag vor der abschließenden Haushaltsdebatte – mit den Fahnen und Forderungen von ver.di auf die Straße gehen. Unser Beschluss zu den 100 Milliarden Sonderschulden und dem 2-Prozent-Ziel der NATO (siehe Zeilen 96 ff) in Verbindung mit der Erklärung unseres Vorsitzenden für „Abrüsten statt Aufrüsten“ muss jetzt während der Haushaltsberatungen umgesetzt werden. In den Ergänzungs- und Änderungsanträgen finden sich die Sozialkürzungspläne der Bundesregierung, gegen deren Umsetzung wir dringend aktiv werden müssen.

Angesichts der realen Bedrohung der Menschheit durch eine nukleare Eskalation im Konflikt zwischen USA/NATO und China/Russland verlangt unser Beschluss (siehe Zeilen 128 ff) zudem, dass wir den Druck auf die Bundesregierung für die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages erhöhen. Eine enge Kooperation mit IPPNW und ICAN sowie die Mobilisierung unserer Mitglieder für Beteiligung an und Organisation von Demonstrationen und Kundgebungen für dieses Ziel sind jetzt dringend erforderlich. Unsere Betriebs- und Personalräte im Gesundheitswesen sollten Fachleute auf Betriebs- und Personalversammlungen einladen, die deutlich machen, dass sie im Atomkrieg niemandem mehr helfen könnten.

In seiner ersten Sitzung nach dem Bundeskongress wird sich der frisch gewählte Bundesvorstand am 9. Oktober auch mit unserem Schreiben, mit der von uns vorgeschlagenen friedenspolitischen Agenda beschäftigen. Ich vermute, dass auch der neue Gewerkschaftsrat unsere Vorschläge diskutieren wird. Wir werden sehen, wie ernst es uns allen mit dem gemeinsamen Handeln für die Sache des Friedens ist.

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"Alle für den Frieden?", UZ vom 6. Oktober 2023



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