Wie aktuell kann die Theorie eines Revolutionärs an seinem 200. Geburtstag sein? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Tagung der Marx-Engels-Stiftung, die sie am 17. November gemeinsam mit der Heinz-Jung-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchführte.
Auf Grund der Corona-Maßnahmen fand die Tagung online statt. Das war für viele Beteiligte Neuland, führte aber nicht zu Schwierigkeiten. Es ermöglicht Interessierten, die Beiträge unter facebook.com/rosaluxnrw/live abrufen zu können.
Der Politikwissenschaftler Frank Deppe nahm die runden Geburtstage von Engels zum Anlass, um die Frage von Hegemonie und Deutungsmacht auf Geschichte zu beleuchten. Dabei stellte er den ideologischen Klassenkampf um die Rezeption von Engels’ Werk zwischen reformistischen und revolutionären Zugängen dar.
Die Lage heute, so Deppe, sei gekennzeichnet von Krisentendenzen der kapitalistischen Länder und dem gleichzeitigen Aufstieg der Volksrepublik China. Deppe zitierte Engels, der mit Blick auf die englische Arbeiterklasse am Ende des 19. Jahrhunderts davon ausging, dass mit dem Verlust der Monopolstellung der englischen Bourgeoisie auf dem Weltmarkt die Chancen für sozialistische Bewegungen innerhalb der englischen Arbeiterklasse steigen würden. Deppe zog den Vergleich zum Abstieg der relativ privilegierten weißen Arbeiterklasse der USA und dem Aufkommen der Black Lives Matter Bewegung als neuer sozialer Bewegung. So könne ein Block entstehen, der die Perspektive eines Systemwechsels erkämpfen kann.
Die von Deppe ausgesparte Parteifrage war Diskussionsthema. Deppe sieht die Formierung der Klasse als notwendig an, dafür sei aber zunächst die Bildung eines Blockes wichtig, der dann möglicherweise auch in der Lage wäre, die Machtfrage zu stellen.
Im ersten Panel diskutierten die Soziologen Nicole Mayer-Ahjua und Klaus Dörre mit dem Betriebsrat Achim Bigus und dem Gewerkschafter Nihat Öztürk die Frage der Formierung der Arbeiterklasse.
Mayer-Ahuja verwies auf den Zusammenhang von Krisenzyklus und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. So würden immer wieder Konkurrenz und Spaltungstendenzen hervorgebracht. Es gebe aber auch Verbindendes in den Lebensumständen der Klasse: die gemeinsame Erfahrung von existentieller Unsicherheit, Ausbeutung und Entfremdung. Die müsse zur Überwindung der Fragmentierung der Klasse in den Mittelpunkt gestellt werden.
Klaus Dörre verwies auf Protestpotential jenseits der klassischen Arbeiterbewegung. Es gebe neben den klassischen Lohnabhängigen, die nach wie vor auf die Gewerkschaften setzen würden und eher bewahrend agierten, weitere Klassen. Dazu zähle er die Unterklassen, die 10 bis 15 Prozent der Gesellschaft ausmachten. Sie würden für den kapitalistischen Verwertungsprozess dauerhaft nicht mehr gebraucht. Neu sei außerdem eine akademische Klasse ohne Entscheidungsbefugnisse, deren Arbeitskraft ihr Wissen und ihre Erfahrungen seien und die eher über allgemeinpolitische Themen erreichbar wären. Zur Bildung von Klassenbewusstsein bräuchte es eine Idee der Transformation.
Achim Bigus bereicherte die Runde mit konkretem Klassenkampfwissen. Er bemühte sich, seine Kampferfahrungen zu verallgemeinern und orientierte sich dabei an dem, was von Engels zu lernen sei: Genaues Hinschauen, sich selbst korrigieren, die Entwicklung der Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt stellen und wissenschaftliche Erkenntnisse für die Klasse nutzbar machen. Er verwies auf die Streikbewegungen seit 2015, in denen die Klasse dazugelernt hätte und neue Kerne von Widerstandsbereitschaft entstanden seien.
Nihat Öztürk setzte sich mit den Fragen der Migration in Engels’ Werk und in der BRD seit den 1960er Jahren auseinander. Einwanderung hätte dem Kapital als Reservearmee gedient, Einwanderer würden als neue Unterklasse genutzt und als Streikbrecher missbraucht.
Das Nachmittagspanel widmete sich der aktuellen Bedeutung von Engels’ Schriften. Eva Bockenheimer, gewerkschaftliche Bildungsreferentin, referierte über die „Dialektik der Natur“. Der Ökologie-Bewegung fehle ein Bezug zur Sozialen Frage. Engels stelle diese Zusammenhänge her. Ellen Brombacher, von der kommunistischen Plattform, befasste sich mit der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ und dem Sozialismus in der DDR als Gegenmodell zum Kapitalismus. Der Sozialwissenschaftler Ingar Solty hob die Bedeutung Engels’ für das Verständnis von Marx hervor. Marcel van der Linden forderte, die Rolle der internationalen Klassenkämpfe stärker zu beachten.
Die Auseinandersetzung zwischen einer revolutionären oder reformistischen Aneignung von Engels ist auch im 200. Jahr seiner Geburt aktuell. Bleibt das Wahre das Ganze, sucht man das Einende, Formierende der komplexen Realität oder akzeptiert man einen Zerfall der Arbeiterklasse, wie es Dörre formuliert. Braucht es also weiterhin eine Partei der Arbeiterklasse, die als Avantgarde agiert oder akzeptiert man die Beliebigkeit vielfältiger Zugänge?
Die DKP hat sich für Variante eins entschieden. Auch wenn es bis zur Verwirklichung dieses Anspruches noch einiger Arbeit bedarf.
Engels zum Weiterlesen
Die Ausgabe 5–2000 der Marxistischen Blätter widmet sich dem 200. Geburtstag des Revolutionärs Friedrich Engels. Manfred Sohn geht auf die Kontinuität des Engelsschen Denkens bei Lenin ein. Mit Kai Köhlers Aufsatz über den „General“ wird der Militärtheoretiker Engels vorgestellt. Es folgen vier Beiträge von John Bellamy Foster, Nina Hager, Elmar Witzgall und Eva Niemeyer, die das Mensch-Natur-Verhältnis bearbeiten. Jürgen Pelzer stellt Engels’ Studie zur „Lage der Arbeiterklasse in England“ vor. Priscilla Metscher beschäftigt sich mit der Frage der Migration. Gerd Callesen und Georg Fülberth nähern sich Engels als Wissenschaftler, Achim Bigus aus der Perspektive eines lesenden Arbeiters, kämpferischen Gewerkschafters und Kommunisten.