Spahn will Gesundheitswesen umfassend umbauen – Konzerne entdecken neue Märkte

Aktionismus und Datenrausch

Von Monika Münch-Steinbuch

Als gesetzlich Versicherter wartet man oft lange auf einen Arzttermin, auf Krankenhausbehandlung oder Reha-Termine – als Privatversicherter bekommt man einen Termin sofort. Ein echtes Ärgernis. Seit Anfang 2016 gibt es Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen. Innerhalb von vier Wochen soll die Vermittlung eines Facharzttermins für gesetzlich Versicherte garantiert sein. Für Patienten, die eine psychotherapeutische Behandlung brauchen, reduziert sich die die Wartezeit von oft einem Jahr auf 14 Tage oder im Notfall weniger.

2017 betrug der Anteil an ambulanten Behandlungen, die über diese Terminservicestellen zustande kamen, laut der Kassenärztliche Bundesvereinigung grade einmal 0,07 Prozent. Die Abschaffung der privaten Krankenversicherung wäre die wirksamste Maßnahme für mehr Termingerechtigkeit.

Stattdessen wertet Gesundheitsminister Spahn diese Terminservicestellen auf und nennt sein neuestes Baby „Terminservice- und Versorgungsgesetz“, TSVG. Danach sollen die Anrufer auch Haus- und Kinderarzttermine vereinbaren und mit einer Triagesoftware (Triage heißt unter anderem Patientensortieren nach Art und Schwere der Erkrankung) an die richtige Versorgungsebene weitergeleitet werden.

Dieses 50 DIN-A-4-Seiten umfassende Gesetz enthält Änderungen von 16 anderen Gesetzen, zum Beispiel  103 umfassende Änderungen des Sozialgesetzbuches V, unter anderem, um eine bessere ambulante Versorgung in strukturschwachen sowie ländlichen Gebieten zu erreichen. Gleichzeitig wird die Datenrevolution in der Medizin vorangetrieben mit dem Ziel, die Patienten als Goldgrube zu nutzen.

Medialer Aufreger ist, dass alle Ärztinnen und Ärzte ihre Sprechstunden um fünf Stunden pro Woche ausdehnen und Sprechstunden ohne Terminvereinbarungen anbieten sollen. Der Protest der Ärzte und ihrer Beschäftigten in den Arztpraxen ist verständlich, denn 25 Prozent mehr Sprechstundenzeit bedeutet, dass 25 Prozent Arztkapazität in der ambulanten Versorgung fehlt. In knappe Budgets gezwängte Fünf-Minuten-Medizin, zu wenig Zeit für Fortbildung und Familie, zu wenig Studienplätze für Medizin. 12 Prozent der frisch examinierten Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nicht aus. Wegen der Arbeitsbedingungen arbeiten Tausende lieber im Ausland. Ein paar Euro mehr für Praxisinhaber lösen die Probleme nicht.

Minister Spahn hat noch mehr Ideen in sein Gesetz gepackt: Kassenärztliche Vereinigung und Krankenkassen sollen in Mangelgebieten KV-Arztpraxen im Verhältnis 50 zu 50 finanzieren. Damit würden Krankenkassengelder zur Finanzierung von Praxiseinrichtungen wie Röntgen- und EKG-Geräte, Computer und Wartezimmerstühle herangezogen werden. Nach TSVG sollen die Länder ohne finanzielle Verpflichtungen mitbeschließen bei der Verteilung von Kassenarztsitzen.

Privatwirtschaftliche MVZ-GmbHs (Medizinische Versorgungszentren) sollen in unterversorgten Gebieten eingerichtet werden. Sogar die KBV „weist darauf hin, dass in der Ärzteschaft die Rolle von investorengesteuerten Krankenhäusern als MVZ-Gründer mit Sorge gesehen wird“.

Medial sind Spahns Bestimmungen zur elektronische Patientenakte ePA kein Thema: „Mit der Verpflichtung der Krankenkassen, ihren Versicherten spätestens ab 1. 1. 21 eine von der Gesellschaft für Telematik GmbH zugelassene Patientenakte anzubieten, wird daraufhin gewirkt, dass für alle gesetzlich Versicherten Patientenakten ins Gesundheitssystem eingeführt werden.“ Diese ist bei Arztbesuchen zu nutzen, beispielsweise um Doppeluntersuchungen zu vermeiden, zur Befunddokumentation et cetera nach entsprechender Entschüsselung, auch auf Smartphones und Tablets. Die Frage der Datensicherheit bleibt offen.

In Norwegen wurden 2018 drei Millionen elektronische Patientenakten gestohlen. In den USA wurden in den Jahren 2014 bis 2017 363 Datenlecks gefunden. Dort wurden pro Jahr etwa 30 Millionen elektronische Patientenakten gestohlen, insgesamt 130 702 378. In Dänemark sind 2016 versehentlich die Gesundheitsdaten der gesamten Bevölkerung in der Visumstelle der chinesischen Botschaft gelandet. Unter media.ccc.de wird gezeigt, wie man als Hacker in Gesundheitsapps und ePAs einbrechen kann, selbst bei Zwei-Faktoren-Verschlüsselung. Wer hat daran Interesse?

Im „Handelsblatt“ war Anfang 2019 zu lesen: „Apple will in der Gesundheit bald schon eine ebenso große Rolle spielen, wie in der Musikindustrie … Microsoft-Chef Nadella bezeichnet das Gesundheitswesen als die ‚dringlichste Anwendung für KI‘ (Künstliche Intelligenz). Nicht nur Pharmakonzerne wie Roche und IT-Unternehmer wie Microsoft mischen in diesem Zukunftsmarkt mit …“

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"Aktionismus und Datenrausch", UZ vom 8. Februar 2019



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