100 Jahre nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg fand dieses grauenhafte Ereignis große Beachtung auch in den historischen Rückblicken der Mainstream-Medien. Bis dahin war es fast ausschließlich ein Thema sozialistischen Gedenkens gewesen.
Fast schon sensationell muss es wirken, dass sogar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ im Januar 2019 ein ehemaliger Autor der „jungen Welt“, Uwe Soukup, die Frage aufwerfen konnte, ob der sozialdemokratische Politiker Gustav Noske nicht nur – was unbestritten ist – an der Niederwerfung der Revolution im Allgemeinen, sondern auch an der Vorbereitung des Mordes an Liebknecht und Luxemburg im Besonderen beteiligt war. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles neigte in einer Stellungnahme dieser Vermutung ebenfalls zu, verband sie aber mit der Bemerkung, dass ein letzter quellenmäßiger Beweis nicht vorliege. Letzteres dürfte zutreffend sein, ist aber üblich: einen rauchenden Colt findet man selten einmal. Nahles‘ Manöver erfolgte aus einer Defensive heraus, denn es handelt sich wieder einmal um einen – diesmal gedenkpolitischen – Angriff auf ihre Partei. In der FAZ gab es sogar eine Überlegung, ob auch der spätere Reichspräsident Ebert in Verbindung mit dem Mordfall gebracht werden müsse. Im selben Blatt hatte allerdings der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler bereits im November 2018 befunden:
„Dass die Volksbeauftragten den Putsch unterbinden mussten, verstand sich freilich nicht nur für sie von selbst. Wäre der Januaraufstand nicht niedergeschlagen worden, hätte die Wahl zur Nationalversammlung nicht stattfinden können.“
Der gegenwärtige geschichtspolitische Frontverlauf auf dem Oberdeck lässt sich so nachziehen:
Darüber, dass die Niederwerfung der radikalen Linken 1919 eine gute Sache gewesen sei, sind sich äußerste Rechte, Konservative, Liberale und Sozialdemokraten einig, nicht aber über die Verantwortung für den Mord an Liebknecht und Luxemburg. Gegenwärtig ist es in den Medien der herrschenden Klasse schick, die SPD niederzuprügeln. Da passt es, ihren einstigen Führern auch noch eine kriminelle Handlung anzuhängen.
Im Gegensatz dazu möchte Frau Nahles in der Mordsache die Hände der Partei, deren Vorsitzende sie ist, in Unschuld waschen. Zugleich erklärt sie Noske zum Widerstandskämpfer gegen den Faschismus nach 1933 und beansprucht Rosa Luxemburgs Erbe für sich.
Die zweite Unappetitlichkeit hat immerhin für sich, dass sie die Mitgründerin der KPD nicht nur als Mordopfer behandelt. Noch wichtiger als die Frage, wie Rosa Luxemburg gestorben ist, muss eine andere sein: wie sie gelebt hat und inwieweit ihr wissenschaftliches und politisches Wirken auch für die Gegenwart aktuell sein kann. Das soll im Folgenden untersucht werden.
Die Akkumulation des Kapitals
1913 erschien Rosa Luxemburgs wissenschaftliches Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“. Zu dessen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen gehört eine Diskussion, die längere Zeit vorher in der revolutionären Bewegung Russlands über die Perspektiven des Kapitalismus in diesem Land geführt wurde. Russisch war die erste Sprache, in die Marx‘ „Kapital“ übersetzt worden war. In den so genannten Reproduktionsschemata des zweiten Bandes, in denen die Beziehungen unter anderen zwischen der Produktionsmittel- und der Konsumgüterindustrie dargestellt wurde, sahen Liberale im Zarenreich eine harmonische Zukunft vor sich. Die so genannten „Volkstümler“ hielten sich stattdessen an die Schilderung der Gräuel der Ursprünglichen Akkumulation im ersten Band und suchten nach Möglichkeiten, diese Phase der kapitalistischen Entwicklung zu überspringen – für diese bestehe im überwiegend agrarischen Russland ohnehin keine Basis: Mehrwert könne dort nicht mit der Chance auf ausreichenden Absatz investiert werden. Hiergegen wandte sich Lenin in seinem Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ (1899). Rosa Luxemburg war hierin mit ihm grundsätzlich einverstanden, behauptete aber, Marx‘ Reproduktionsschemata seien unvollständig. Arbeite man sie weiter aus, ergebe sich tatsächlich aus der Mehrwertproduktion ein Überschuss, der auf dem Binnenmarkt nicht mehr verkauft werden könne. Daraus folge der Zwang zu ständiger Ausdehnung des Kapitalismus in noch nicht industrialisierte Regionen, Kolonialismus, Konkurrenz der Metropolen untereinander und deren militärische Austragung: Imperialismus.
1910 hatte Rudolf Hilferding seine eigene Sicht der Dinge veröffentlicht: in seinem Buch „Das Finanzkapital“. Hier führte er aus, wie Industriemonopole und Banken zu einem neuen Komplex verschmolzen. Lenin hat diese Theorie in seiner 1916 geschriebenen, 1917 veröffentlichten Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ aufgegriffen: Der finanzkapitalistische, mit dem Staat verbundene Machtkomplex betreibt Waren- und Kapitalexport, koloniale Expansion und Krieg. Im Ergebnis unterscheiden sich Lenin und Luxemburg nicht. Für Letztere allerdings sind die Monopole keine zentrale Ursache: nicht diese, sondern die Überakkumulation von Anfang an, die in der Gegenwart auf die Spitze getrieben sei, führe in den Imperialismus.
Luxemburg wurde – auch von Marxisten – vorgehalten, dass sie die Absorptionsfähigkeit des Binnenmarkts übersehen habe. So lautete später auch die Kritik von Keynesianern. Doch selbst wenn es dem Kapital gelingen sollte, immer neue Anlagesphären für sich zu erschließen, so handelt es sich doch um die „Inwertsetzung“ (wie der 2018 verstorbene Elmar Altvater das später nannte) von bisher nicht kapitalistisch ausgebeuteten Bereichen: zum Beispiel natürlicher Ressourcen oder unbezahlter weiblicher Arbeitskraft. „Frauen, die letzte Kolonie“ – so lautet der Titel eines 1983 erstmals erschienenen Buchs von Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof. Rosa Luxemburg war keine Feministin und keine Ökologin, aber ihre Theorie der Überakkumulation erwies sich als anschlussfähig, inspirierend und klärend für Teile dieser Bewegungen.
Der logische Endpunkt der von ihr diagnostizierten letztlich permanenten Überakkumulation ist ein Zusammenbruch, der in dem Moment unausweichlich ist, in dem das Kapital keinen nichtkapitalistischen Bereich mehr findet, in den hinein es sich ausbreiten kann. Ob er jemals erreicht werden wird, bleibt ungewiss. Im Vergleich zur Zusammenbruchs-Theoretikerin Rosa Luxemburg war Karl Marx ein Transformationstheoretiker. In seiner Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ schrieb er 1859:
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.“
Ist dies ein Gegensatz zu derjenigen Rosa Luxemburgs?
Nur scheinbar.
Für Rosa Luxemburg können die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise schon vor deren Zusammenbruch erreicht und genutzt werden, ja, sie müssen dies sogar, soll die Zivilisation nicht in einer Katastrophe untergehen. Damit verlassen wir allerdings die – von ihr ebenso wie von Marx nie akzeptierte – Beschränkung auf eine ausschließlich ökonomische Analyse und betreten das Feld der Klassenkämpfe.
Theorie und Praxis der Politik
Rosa Luxemburgs ökonomisches Hauptwerk erschien zwar erst 1913, aber ihren im engeren Sinn politischen Schriften, auch den viel früheren, lagen deren Thesen schon zugrunde – vielleicht aber umgekehrt: Es ist denkbar, dass ihr Engagement und ihre Erfahrungen in Tageskämpfen sie veranlasst haben, die wirtschaftlichen Triebkräfte aktueller Entwicklungen zu erforschen und in Zürich, nachdem sie schon lange vorher in der polnischen sozialistischen Bewegung aktiv gewesen war, von ihrem Studium der Naturwissenschaften zu dem der Politischen Ökonomie überzugehen.
Die Zerstörungskräfte der ständigen Akkumulation des Kapitals lösen für sie einen zweiten Prozess aus: die Entstehung und Entwicklung einer revolutionären Arbeiterbewegung. Diese ist international wie die Kapitalbewegung ja auch. Rosa Luxemburg war eine konsequente Internationalistin. Der erste von ihr mitverfasste Text in deutscher Sprache war der Bericht der polnischen Delegation an den Dritten Internationalen Arbeiterkongress in Zürich 1893. Von Anfang an bekämpfte sie den Nationalismus – auch in der Arbeiterbewegung selbst, sehr früh gegen Józef Pilsudski, einen der Führer der Polska Partia Socjalistyczna (PPS), den späteren Diktator Polens.
Wie bereits Marx und Engels, überschätzte sie die Fähigkeit des Proletariats, die ihm zugeschriebene objektive historische Subjekt-Funktion auch aktiv wahrzunehmen. Umso schärfer war ihr Blick auf Tendenzen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die darauf abzielten, die Massen nicht auf ihre revolutionären Möglichkeiten hinzuführen, sondern sich den kapitalistischen Gegebenheiten anzupassen. So entstand 1899 Rosa Luxemburgs Schrift „Sozialreform oder Revolution?“ gegen Eduard Bernsteins Revisionismus. Vom Vertrauen in die Selbstmobilisierung des Proletariats war sowohl ihre Kritik an Lenins Parteikonzept (in ihrer Arbeit „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, 1904) als auch an der Brems-Taktik der deutschen Gewerkschaften und den Zähmungsversuchen der SPD noch vor 1914 bestimmt. Sie kämpfte in der russischen Revolution von 1905/06 und trat nach ihrer Rückkehr für Massenstreiks als Konsequenzen einer sich auch in Deutschland anbahnenden revolutionären Situation ein. Die andere Folge einer sich zuspitzenden Krisensituation war die Kriegsgefahr, die durch revolutionäre Masseninitiative gebannt werden müsse. Die deutsche Klassenjustiz schickte sie nach einer antimilitaristischen Rede in Frankfurt/Main ins Gefängnis. Rosa Luxemburg hatte keine Illusionen über die Chancen eines bürgerlichen Pazifismus und europäischer Einheitsbestrebungen. Letztere, so schrieb sie 1911, seien „stets eine imperialistische Missgeburt“ gewesen.
Mit der Zustimmung der meisten sozialdemokratischen Parteiführungen zum Krieg 1914 brach für Rosa Luxemburg eine Welt zusammen. Sofort begann sie mit dem Kampf um die Reorganisation der Internationale und dem Neuaufbau einer revolutionären Organisation in Deutschland: in der „Gruppe Internationale“ und in der Spartakusgruppe. Jahrelang war sie in Haft.
Die russische Revolution 1917 hat sie begrüßt, zugleich aber das Dekret über die Unabhängigkeit der Nationen im ehemaligen Zarenreich wegen der Gefahr des Nationalismus und die Aufteilung des Großgrundbesitzes in kleine private Bauernwirtschaften als Ursache künftiger Konflikte kritisiert. „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ – diese Maxime, in Krieg und Bürgerkrieg von keiner Seite praktizierbar, erwies sich im Nachhinein als bedenkenswerte Kritik an staatlichem Machtmissbrauch in sozialistischen Gesellschaften.
Erst im November 1918 aus der Haft befreit, schrieb Rosa Luxemburg das Programm des Spartakusbundes (so hieß nun die bisherige Spartakusgruppe). Auf dem Gründungsparteitag der KPD an der Jahreswende 1918/1919 warnte sie vor ultralinkem Voluntarismus. Auf sie und Karl Liebknecht konzentrierte sich die Hetze der reaktionären und auch der sozialdemokratischen Presse.
Über ihren gewaltsamen Tod am 15. Januar hinaus sind bis heute immer wieder neue Aspekte ihres theoretischen und politischen Erbes aktuell geworden. Gegenwärtig gilt dies vor allem für ihre zutreffende Analyse des Akkumulationsprozesses des Kapitals und die Notwendigkeit, gegen dessen Konsequenz zu kämpfen: die Gefahr eines imperialistischen Krieges jetzt, im 21. Jahrhundert.