Beobachtungen aus einem zerrissenen Land (Teil 1)

Afghanistan – unter die Räuber gefallen

Von Matin Baraki

Auf meiner Reise nach Afghanistan/Pakistan (AfPak) begegnete mir schon bei der Bahnfahrt zum Flughafen Frankfurt/M. das afghanische Elend. Ein Landsmann, der seit über 16 Jahren als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland lebt, war auf dem Weg zur Arbeit. Was machen Sie, fragte ich? „Ich habe erst in Marburg und jetzt in Frankfurt in einem Internet-Café gearbeitet. Mein Lohn reicht nicht für mich und die Versorgung meiner Familie, die in der ostafghanischen Provinz Laghman lebt. Ich möchte eine Ausbildung als Security-Mann machen, in der Hoffnung, damit mehr Geld zu verdienen. In Afghanistan hatte ich Pharmazie studiert. Aber meine Zeugnisse sind hier nicht anerkannt worden.“

Mir sind zahlreiche Ingenieure, Hochschuldozenten, Ärzte, Lehrerinnen, hohe Politfunktionäre aus der Zeit der Linksregierung bekannt, die als Busfahrer, Krimskrams-Ladenbesitzer, Pizzeriabesitzer, Pizzafahrer, Taxifahrer, McDonald‘s-Mitarbeiter, Haushaltshilfen usw. arbeiten. Was soll nun aus den tausenden afghanischen Flüchtlingen in der BRD werden, die zum Teil Analphabeten sind?

Das Leben eines Arztes in AfPak

Am 3. März hatte ich ein Gespräch mit dem Zahnarzt, Dr. Ahmad Zaki, der in einer Stadt in AfPak praktiziert. Er ist Angestellter eines anderen Zahnarztes. Was er verdient, muss er im Verhältnis 1 zu 3 mit seinem Chef teilen. In einem Gebäudekomplex haben sich Dutzende Ärzte niedergelassen. Im Eingangstor sitzt der Apotheker Abdul Rahim. Alle Patienten müssen seine Apotheke passieren, um zu den Ärzten zu gelangen. Rahim bestimmt, zu welchem Arzt der Patient gehen soll. Er verlangt dann von den Ärzten „Kamischan“ = Provision. Wer nicht zahlt, bekommt auch keine Patienten zugewiesen. Er kassiert auch noch von den Pharmaunternehmen und deren Vertretern Kamischan. Rahim „zieht den Leuten die Haut ab“, erzählte mir ein Arzt, er sei im wahrsten Sinne des Wortes ein Wegelagerer.

Die Ärzte wiederum verlangen von Labor-, Ultraschall- und Röntgengerätebesitzern Kamischan. In regelmäßigem Abstand kommen dann auch noch Kontrolleure aus dem Gesundheitsamt und verlangen von den Ärzten Kamischan. Wer nicht bezahlt, dessen Praxis wird geschlossen oder er wird sogar verhaftet.

Im alten Afghanistan durften Ärzte keine eigenen Apotheken besitzen. Im neuen Afghanistan ist es die Regel, dass der Arzt oben seine Praxis und unten seine Apotheke hat. Wenn die Patienten die Praxis verlassen, haben sie ausnahmslos ein Rezept in der Hand, vollgeschrieben mit Medikamenten-“Empfehlungen“. Ich habe mir einige Rezepte angeschaut, auf denen ausnahmslos Breitspektrum-Antibiotika vermerkt waren oder Vitaminpräparate, die in der BRD in jeder Drogerie zu haben sind.

Kinder an die Macht

Einmal über die afghanisch-pakistanische Grenzstation Torkham und zurück am Khaiberpass ist lehrreicher als das Lesen schlauer Bücher über das Arbeitsleben von tausenden dort agierender Erwachsener und vegetierenden Kindern an dieser Grenze.

Bevor man die Reise antritt, ist es ratsam einige Dollarscheine für die zahlreichen offiziellen und selbsternannten Kontrolleure auf beiden Seiten der Grenze zurechtzulegen. Wenn der Reisende damit gut durchkommt, hat er Glück gehabt. Falls er Pech hat und irgendwie aufgefallen ist, wird das Autokennzeichen notiert und weitergegeben. Dann wird das Auto irgendwo von selbsternannten Kontrolleuren angehalten. „Sie brauchen keine Angst zu haben, wir sind Diebe, geben Sie uns, was Sie an Brauchbarem haben: Geld, Uhren, Handys“. Kommt man auch hier durch, hat man wiederum Glück gehabt. Sind die Diebe jedoch der Meinung, dass mehr zu holen ist, wird man mitgenommen. Da muss dann ordentlich Lösegeld bezahlt werden, denn nun geht es um Leben und Tod. Wer sich in dieser Region bewegen will, muss die Kunst des Überlebens beherrschen, die darin besteht, nicht aufzufallen.

Ein weiteres erschreckendes Erlebnis ist, sich die über 3 000 schuftenden Kinder in Torkham am Khaiberpass, an der afghanisch-pakistanischen Grenze, anzuschauen. Alle diese Kinder sind im Schulalter. Sie schieben voll beladene Holzkarren hin und her über die Grenze für ein paar Afghani bzw. pakistanische Kaldar. In den Kabuler Medien wurde Anfang März 2016 darüber berichtet. Passiert ist nichts. Die Kabuler Administration ist mit sich selbst und nach über einem Jahr immer noch mit der Verteilung der Posten beschäftigt. Selbst für Absolventen der Universitäten gibt es keine Arbeit, wenn sie keine Beziehung oder Dollars haben. Nicht ohne Grund verlassen tausende Menschen das Land.

Potemkinsche Schulen

Die Propaganda-Söldner des Westens tischen uns seit Jahren regelmäßig den Aufbau unzähliger Schulen am Hindukusch als eine der Errungenschaften des NATO-Krieges auf. In der Realität stehen nicht wenige dieser Einrichtungen lediglich auf dem Papier. Selbst das Kabuler Erziehungsministerium bestätigte am 29. Februar die Existenz hunderter potemkinscher Schulen in allen Provinzen des Landes, berichtete Tolo-TV. Beobachter gehen sogar von tausenden solcher Geisterschulen aus.

Die US-Entwicklungsbehörde USAID behauptet in einem Werbevideo, dass sie in Afghanistan über 700 Schulen gebaut und damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Bildungssituation im Land geleistet hätte. Allerdings trüben Aussagen des neuen afghanischen Bildungsministers Asadullah Hanif Balkhi diese Erfolgsmeldungen. Nach seinen Angaben existieren viele dieser Schulen lediglich auf dem Papier.

Außerdem fließen die vom Ausland gespendeten Gelder für den Unterhalt mancher Schulen in die Taschen korrupter Bürokraten. Mein Enkel Subair geht in die 12. Klasse der am Rande von Kabul gelegenen Hussein-Khel-Oberschule. „Wenn unserer Schule von internationalen Organisationen Hilfsmittel, Lehrmaterial oder Lebensmittel gespendet wird, werden in der Regel die ganzen Sachen in den Kombi des Direktors geladen und aus der Schule geschafft. Wir sehen davon nichts.“

Über sieben Prozent der Lehrkräfte haben nicht einmal Abitur, geschweige denn eine pädagogische Ausbildung. Darüber hinaus sind tausende Stellen im Bildungsministerium nicht besetzt, wie Präsident Ashraf Ghani betonte. In den staatlichen Schulen herrscht akuter Mangel an qualifizierten Lehrkräften. Diese sind nicht bereit, für 5 800 Afghani Monatslohn, das sind etwa 75 Euro – zu wenig um die Familie zu ernähren – in den staatlichen Schulen zu arbeiten. Sie gehen lieber zu den privaten Lehreinrichtungen, wo sie mehr Gehalt bekommen und noch zusätzlich von den Schülern Geld kassieren. Dennoch schickt, wer genügend Dollar hat, seine Kinder in diese Einrichtungen. Seit dem Einmarsch der US-Armee ist auch das afghanische Bildungswesen amerikanisiert. Private Schulen und Hochschulen sprießen wie Pilze aus dem Boden. Die Gründung solcher Einrichtungen ist zur lukrativen Geldwaschanlage für Korruptions- und Drogeneinnahmen geworden.

Obwohl das neue Schuljahr schon begonnen hat, gibt es in vielen Schulen noch keine Schulbücher. Nach einem Bericht von 1-TV am 27. März 2016 werden aber die vom Erziehungsministerium gedruckten Schulbücher auf dem Markt angeboten. Mojib Mehrdad, Sprecher des Bildungsministeriums, musste eingestehen, dass für die Schulen in diesem Jahr 5 Mio. Bücher gebraucht werden, gedruckt worden seien jedoch nur ca. 2 Mio.

Postenkämpfe

Der Kampf um den Kopf des toten Kalbes, wie die Afghanen den Streit um die Aufteilung der Posten zwischen den Kontrahenten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah nennen, geht immer noch weiter. Allein 25000 Stellen sind im zivilen wie militärischen Bereich des Verteidigungsministeriums wegen Inter­essenkollisionen zwischen den beiden Fraktionen der Kabuler Administration nicht besetzt. Selbst der Posten des Verteidigungsministers wird seit Jahren kommissarisch geführt. Da nun hektisch versucht wird, die Taliban in die kolonial-ähnlichen Strukturen in Kabul zu integrieren, ist für diesen Posten General Abdullah Habibi, Stellvertreter des Verteidigungsministers aus der Talibanzeit, im Gespräch. Nach Angaben des „Wall Street Journal“ von Ende Mai 2016 soll der Kommandeur einer Splittergruppe der Taliban, Mullah Rasul, Geld und Waffen von der Kabuler Administration erhalten haben. Damit soll unter den Taliban Zwietracht gesät und diese dadurch marginalisiert werden.

Jedes Mitglied der Kabuler Administration will möglichst viele seiner eigenen Anhänger, Verwandten, Sippschaft und Söldner im Verteidigungsministerium platzieren. Viele gut ausgebildete und erfahrene Kommandeure werden jedoch nicht an den Stellen eingesetzt, wo sie eigentlich hingehörten. Gefördert werden nur die Offiziere, die „Beziehungen nach oben“ haben. Am 26. Februar sprach ich mit einem afghanischen Oberst, den ich hier Ahad Timuri nenne. Er gehört zu den bestens ausgebildeten und erfahrensten Offizieren der afghanischen Nationalarmee (ANA). Zuletzt war er an einer sensiblen Stelle am Flughafen in Kabul eingesetzt. Im Jahre 2015 habe er über ein halbes Jahr keinen Sold bekommen, erzählte mir seine Frau, er selbst wollte das nicht zugeben. Zuletzt hätte er überhaupt keine Aufgabe gehabt und einfach nur so rumgehangen. Seit kurzem sei er als Ausbilder eingesetzt worden. Auf meine Frage, warum er trotz seines langen Diensteinsatzes nicht befördert werde, antwortete er resigniert: „Ich habe weder Beziehungen noch Dollars“. Oberst Timuri ist nicht korrupt. Deswegen wird aus ihm in diesem real existierenden Afghanistan nichts.

Wozu Parlamentswahlen?

Ein billiges Theater, das aber, in der Vergangenheit, über 100 Millionen Dollars kosten wird. „Wieder Wahlen?“, fragen die durch so viele sinnlose Wahlen geplagten Menschen am Hindukusch. „Dieses Parlament ist völlig überflüssig. Es werden wieder die Warlords, deren Entourage, korrupte und einflussreiche Politiker und Personen sowie Ameriko- und Euroafghanen ins Parlament kommen. „Das Haus des Volkes ist das Haus der Korruption und das Haus der Niederträchtigkeit“, sagte ein engagierter Bürger am 11. März 2016 vor laufender Kamera von Tolo-TV. „Mit dem Geld für die Wahlen und späteren Diäten der Abgeordneten könnten Schulen und Krankenhäuser errichtet werden“, damit die Menschen zur Behandlung nicht nach Pakistan gehen müssen. Es sollte Arbeit geschaffen werden, um die Jugendlichen nicht in die Migration zu treiben, fordern viele besorgte Afghanen. Würde es so weiter gehen, wird Afghanistan faktisch entvölkert. Die Jungen, die gut Ausgebildeten gehen weg. Es bleiben die Armen, die Alten, die Warlords, die Kriegsverbrecher und eine durch und durch korrupte Administration.

Anfang März 2016 hat der Kabuler Präsident ein Dekret für die Reform der Wahlkommission unterzeichnet. Veröffentlicht wurde es nicht. Denn hinter den Kulissen begann sogleich der Kampf um die Besetzung der künftigen Wahlkommission. Jede Gruppe wollte so viel wie möglich von ihren eigenen Leuten dahin platzieren. Erfahrungsgemäß wird dann dieses zusammengeschusterte Organ „Unabhängige Wahlkommission“ getauft. Sofort versuchten einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Staatsapparat und auch aus der Umgebung der Warlords, Einfluss auf den Wahlprozess zu nehmen, beschwerten sich Politkommentatoren öffentlich.

In vielen Gesprächen hört man, dass die Taliban nicht das eigentliche Problem am Hindukusch sind. In erster Linie ist es die vom Ausland eingesetzte „Elite“, der es um ihre Machtabsicherung und lukrative Geschäftsinter­essen geht. Sie ist größtenteils durch Bestechung, Stimmenkauf und Wahlfälschungen zu ihren Posten gekommen. Dadurch hat sie sich selbst delegitimiert. Die reguläre Legislaturperiode ist schon im Juni 2015 abgelaufen, Neuwahlen sind jedoch nicht in Sicht.

Phantasiesoldaten

Am 26. Februar 2016 warnte der in der US-Regierung für die Geheimdienste zuständige James Clapper vor einer Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan und sprach vom erneuten Erstarken von Al Kaida in AfPak. Da in AfPak gerade noch zwischen 50 und 100 aktive Al-Kaida-Kämpfer vermutet werden, ist das völlig unangemessen. Was steckt hinter dieser Annahme? Und wen hat denn die NATO unter US-Führung seit 2001 am Hindukusch und in den pakistanischen Stammesgebieten eigentlich bekämpft? In der Tat haben jetzt sowohl die afghanische als auch die US-Administration sowie die NATO ein ernstes Legitimationsproblem für die Fortsetzung der NATO-Militärpräsenz und des Einsatzes in und um Afghanistan. Die Sicherheitslage verschlechtert sich täglich. Die großen Verluste bei den afghanischen Sicherheitskräften wirken auf die Rekruten demoralisierend. Im Jahre 2015 wurden jeden Monat über 500 Soldaten und Polizisten getötet. Statistisch gesehen hat die ANA im Jahre 2015 jeden Tag 22 Soldaten im Krieg verloren. Das ist eine Steigerung von 42 Prozent gegenüber 2014. Durch die hohe Zahl von Deserteuren, die sich absetzen oder zum Widerstand überlaufen, verliert die ANA jedes Jahr ein Drittel ihrer Soldaten. Die 350 000 Mann starke, von der NATO ausgebildete Kampftruppe steht nur auf dem Papier. Die Räuber im Verteidigungsministerium und die regionalen Machthaber kassieren Geld für Soldaten und Polizisten, die gar nicht existieren. Mir Ahmad Joiendah, Stellvertreter der Untersuchungskommission zur Lage der Sicherheitskräfte, sprach von „Phantasiesoldaten“. Die enorme Steigerung der zivilen Opfer stellt die Legitimation der kriegführenden Mächte und die Kabuler Administration ernsthaft in Frage. Für 2015 hatten die Vereinten Nationen die Zahl der Opfer mit 11002 Personen angegeben. Darunter seien 3 545 Tote und 7 457 Verletzte gewesen. Das seien 4 Prozent mehr als 2014, berichtete Danielle Bell, Chefin der Menschenrechtsabteilung der UN-Mission UNAMA. Seit 2009 sind nach UN-Angaben 59000 Zivilisten am Hindukusch getötet oder verletzt worden. Besonders stark stiegen die Opferzahlen unter Frauen mit 37 Prozent auf 1 246 Tote und Verletzte, unter den Kindern um 14 Prozent auf 2 829. Darüber hinaus wurden vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) Zahlen veröffentlicht, wonach bis zum 31. März 2016 über 81445 neue Binnenflüchtlinge zu registrieren waren. Nach einer Meldung von Tolo-TV vom 19. März 2016 haben die Taliban im Jahr 1394 (20. März 2015 bis 20. März 2016) insgesamt 9827 bewaffnete Aktionen gegen die Sicherheit des Landes durchgeführt. Die dramatischsten waren die Besetzung der Stadt Kundus im Norden und Musaqala in der Provinz Helmand im Süden.

Am 4. März ließ dann das Pentagon die Katze aus dem Sack. Es sollen noch weitere 1000 US-Soldaten nach Afghanistan entsandt werden, berichtete die pakistanische Zeitung „Daily Hewad Quetta“. „Der Sucher ist Finder“ lautet ein afghanisches Sprichwort. Auf der Suche nach einer weiteren Begründung für ihre Militärpräsenz in AfPak haben sich die US-Strategen etwas ganz Neues ausgedacht. Sie begründen ihre Militärpräsenz nun auch noch mit mangelnder Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen. Es bestehe die Gefahr, dass die Taliban Zugang zu den Waffen bekämen. Würden die USA Pakistan besetzen, falls diese Gefahr real werden sollte? Fakt ist, dass Pakistan über 2000 „extrem gesicherte“ Atomwaffen verfügt, die von 1000 Elitesoldaten bewacht werden. Daher kann ein Zugang der Taliban zu den Atomwaffen nahezu ausgeschlossen werden.

(2. Teil in der kommenden Ausgabe)

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"Afghanistan – unter die Räuber gefallen", UZ vom 11. November 2016



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