Es wird unruhig im Globalen Süden: Die Zeiten, in denen die einstigen Kolonialmächte Europas darauf setzen konnten, es herrsche Ruhe in den meisten Teilen ihres vermeintlichen Hinterhofs, sind vorbei. In den ehemaligen und auch in den noch bestehenden Kolonien wächst der Unmut über die unverändert andauernden Bestrebungen der Staaten Europas, ihre neokoloniale Dominanz, zuweilen sogar ihre fortbestehende koloniale Herrschaft zu wahren und zugleich jegliche Verantwortung für die Schäden zurückzuweisen, die sie in oder sogar schon vor der Kolonialzeit angerichtet haben – so etwa die Verantwortung für die Folgen des Sklavenhandels. Die Proteste nehmen zu – und sie zeitigen praktische Konsequenzen.
Erst Mali …
In Deutschland am stärksten wahrgenommen wird zur Zeit der Aufstand der ehemaligen französischen Kolonien in Westafrika, insbesondere im Sahel, gegen Frankreichs politische und ökonomische Dominanz. Diese Dominanz schien noch vor wenigen Jahren fest verankert zu sein. Eher vorsichtige Bemühungen im französischsprachigen Westafrika, eine eigenständige, von Paris unabhängige Politik zu treiben, waren zuletzt im Jahr 2011 in Côte d‘Ivoire gescheitert, als nach schweren, letztlich sogar in bewaffnete Kämpfe mündenden Auseinandersetzungen um die Präsidentenwahl vom Herbst 2010 Frankreich militärisch intervenierte und den heftigen Konflikt zugunsten von Alassane Ouattara entschied. Ouattara, ein ehemaliger IWF-Mitarbeiter, ist gegenüber Paris umstandslos loyal und amtiert bis heute als Präsident seines Landes. Als Frankreich dann Anfang 2013 in Mali intervenierte – dort an der Seite der Regierung im Kampf gegen Dschihadisten in den nördlichen Landesteilen –, hatte es mehr als 2.500 Soldaten dauerhaft in vier Staaten West- und Zentralafrikas stationiert und sollte in den folgenden Jahren zeitweise bis zu 5.100 weitere Militärs in den Sahel entsenden. Auch ökonomisch schien Frankreich völlig unangefochten zu dominieren; seine Kontrolle über Nigers riesige Uranvorkommen beispielsweise galt als felsenfest.
… dann Burkina Faso und Niger
Die Dinge gerieten heftig ins Rutschen, als sich im August 2020 in Mali Offiziere an die Spitze einer breiten Protestbewegung setzten und die Paris gegenüber loyale Regierung von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta aus dem Amt putschten. Im Mai 2021 folgte ein weiterer Putsch, der strikt auf Eigenständigkeit, auf echte Souveränität setzende Kräfte in Bamako an die Macht brachte. Und dabei blieb es nicht. Auch in Burkina Faso (Januar und September 2022) und in Niger (Juli 2023) wurden jeweils die Regierungen durch Militärs gestürzt, die anschließend eine Abkehr von Frankreich vollzogen. Mittlerweile sind die französischen Streitkräfte – unfreiwillig – aus den drei Sahel-Staaten abgezogen. Die Bundeswehr und die US-Streitkräfte mussten sie in den Jahren 2023 und 2024 ebenfalls verlassen.
Au revoir, Kolonialmacht
Man kann spekulieren, warum ausgerechnet Militärs in den drei Staaten den Sturz jeweils unpopulärer Regierungen realisierten. War der Grund, dass sie im Krieg gegen die Dschihadisten im Sahel von französischen Militärs in einem verloren gehenden Krieg entgegen ihren Überzeugungen herumkommandiert wurden und sich nun zur Wehr setzten? Lag es daran, dass die zivile Opposition im neokolonialen Klammergriff nicht stark genug werden konnte? Vermutlich war beides der Fall; aber wie auch immer: Klar war, dass der Hinauswurf der einstigen Kolonialmacht von weiten Teilen der Bevölkerung begeistert unterstützt wurde; die recht breite Sympathie, die die Übergangspräsidenten Assimi Goïta (Mali), Ibrahim Traoré (Burkina Faso) und Abdourahamane Tiani (Niger) genossen, belegte das. Auch das weitere Vorgehen der drei Militärregierungen findet Anklang: Malis Regierung setzt einen neuen Bergbaukodex durch, der westliche Bergbaukonzerne zwingt, angemessenere Summen in die Staatskasse in Bamako abzuführen; Nigers Regierung drängt den französischen Urankonzern Orano (Ex-Areva) aus dem Land. Die drei Staaten haben die Alliance des États du Sahel (AES) gegründet, stützen sich militärisch auf Russland, wirtschaftlich stärker auf China oder die Türkei. Sie gewinnen an Eigenständigkeit.
Weitere Länder folgen
Längst macht ihr Beispiel Schule. Im Senegal ist im April, auf der Welle breiter Ablehnung der früheren Kolonialmacht Frankreich reitend, eine neue Regierung unter Präsident Bassirou Diomaye Faye ins Amt gelangt, die sich zwar kompromissbereiter gibt als die Regierungen in der AES, die aber dennoch etwa auf dem Abzug der französischen Streitkräfte besteht. Die Regierung des Tschad unter Präsident Mahamat Idriss Déby Itno setzt gleichfalls einen Abzug der französischen Truppen aus ihrem Land durch. Togos Präsident Faure Gnassingbé gibt sich unter dem Druck starker Teile der Bevölkerung offen für punktuelle Kooperation mit der AES, was in Paris gar nicht gern gesehen wird. Man sollte sich nichts vormachen. Die Präsidenten Togos und des Tschad beherrschen ihr Land jeweils mit drakonischer Repression; Linke im weiteren Sinne haben von ihnen überhaupt nichts zu erwarten. Militärregierungen, wie sie in den AES-Staaten derzeit am Ruder sind, tendieren historisch, vorsichtig formuliert, ebenfalls zu harter Repression; dass in der AES Oppositionelle und Journalisten – und zwar nicht nur solche, die profranzösischer Subversion verdächtig sind – immer mehr unter Druck geraten, ist kein Zeichen des Fortschritts. Der westafrikanische Massenausbruch aus dem Neokolonialismus aber macht Mut.
Druck auch in Übersee
Unwille gegenüber der französischen Herrschaft greift auch andernorts um sich – etwa in Neukaledonien. Die Pazifikinsel, in etwa so groß wie Sachsen und über 270.000 Einwohner stark, ist ein sogenanntes französisches Überseegebiet. Von den Vereinten Nationen wird es allerdings bis heute als sogenanntes Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung klassifiziert, das immer noch seiner Entkolonialisierung harrt. Auf Druck einer starken antikolonialen Bewegung sah Paris sich genötigt, drei Unabhängigkeitsreferenden zuzulassen, deren erstes (2018) und zweites (2020) scheiterten; ein drittes im Jahr 2021 wurde, obwohl die Covid-19-Pandemie jegliche Referendumskampagne unmöglich machte, von Paris auf Biegen oder Brechen durchgezogen, von der antikolonialen Bewegung jedoch boykottiert. Im Jahr 2024 flammte der Unabhängigkeitskonflikt im Streit um eine von der französischen Regierung geplante Wahlrechtsreform wieder auf. Bislang haben neben der indigenen Bevölkerung nur diejenigen aus Europa zugezogenen Franzosen das Wahlrecht, die vor 1998 eingewandert sind; das soll sicherstellen, dass die indigene Bevölkerung nicht zur Minderheit im eigenen Land wird und jederzeit von Europäern in Grund und Boden gestimmt werden kann.
Entkolonialisierung gefordert
Die Wahlrechtsreform sah nun genau das vor: Sie sollte auch den nach 1998 immigrierten Europäern das Recht zum Urnengang erteilen. Der Plan löste massive Proteste aus. Tausende Kanaken – so die Selbstbezeichnung der Indigenen – demonstrierten immer wieder friedlich, bis nach allerlei Provokationen von Unabhängigkeitsgegnern – häufig äußerst weit rechts stehende Europäer – im Mai 2024 rund 5.000 jugendliche Kanaken zur Randale übergingen, Barrikaden bauten und staatliche Einrichtungen und Eigentum von Unabhängigkeitsgegnern zu attackieren begannen. Paris reagierte mit harter Repression. Die Unruhen, die letztlich rund ein Dutzend Todesopfer forderten, flauten nach mehreren Wochen langsam wieder ab. Die Forderung, Neukaledonien endlich zu entkolonialisieren, es in die ihm zustehende Unabhängigkeit zu entlassen, ist jedoch auf der Tagesordnung zurück.
Breite Proteste gab es 2024 auch in weiteren französischen Überseegebieten – auf den Karibikinseln Guadeloupe und vor allem Martinique. Auslöser waren insbesondere die hohen Lebenshaltungskosten, die auch dadurch verursacht sind, dass Importe aus Frankreich – ganz wie zu Kolonialzeiten – Privilegien genießen. Die Proteste dagegen brachen im September 2024 los – beileibe nicht zum ersten Mal übrigens; zuletzt hatte es auf Martinique vor drei Jahren wütende Demonstrationen gegeben. Versuche der französischen Regierung, die Proteste durch Maßnahmen zur Senkung der Lebensmittelkosten zu dämpfen, schienen zuletzt Wirkung zu zeigen. Allerdings wird inzwischen auch auf Martinique zunehmend die Frage aufgeworfen, ob der Status eines französischen Überseedepartements für die eigene Entwicklung wirklich angemessen ist – oder ob man nicht mehr Autonomie brauche, um die eigene Ökonomie stärker in regionale karibische Zusammenhänge einzubetten. Das letzte Wort scheint auf Martinique – und wohl auch auf Guadeloupe – noch nicht gesprochen zu sein.
Energisches Streben nach Unabhängigkeit …
Dass vor allem in ehemaligen und aktuellen Kolonien Frankreichs die Proteste und das Streben nach Unabhängigkeit immer lauter, immer energischer werden, ist wohl kein Zufall: Frankreich hat seine neokoloniale Dominanz seit der offiziellen Entkolonialisierung stets besonders intensiv und unerbittlich durchgesetzt. Die britischen Eliten hingegen gingen die Dinge nach der Entkolonialisierung oft ein wenig lockerer, weniger verbindlich an, weshalb die Beziehungen zu ihren ehemaligen – und aktuellen – Kolonien meist etwas entspannter sind. Natürlich gibt es Ausnahmen, die Chagos Islands etwa, die Britannien im Zuge der Entkolonialisierung Mauritius entriss und anschließend per Massendeportation entvölkerte. Der Grund? Die USA wollten auf einer der strategisch herausragend mitten im Indischen Ozean gelegenen Inseln, auf Diego Garcia, eine Militärbasis errichten, was sie schließlich auch taten. Repräsentanten der deportierten Bevölkerung, der Chagossians, haben über Jahrzehnte hin immer wieder protestiert und ihr Recht eingefordert. Im Herbst 2024 entschied die neue Labour-Regierung, sich den Streit vom Hals zu schaffen und die Inseln an Mauritius zurückzugeben – unter der Bedingung, den USA die Stützpunktrechte auf Diego Garcia für 99 Jahre zuzusichern. Die Verhandlungen und mit ihnen auch der Protest der Chagossians dauerten bei Redaktionsschluss noch an.
Stärker unter Druck gerät Britannien allerdings auf einer anderen Ebene. Schon seit geraumer Zeit werden insbesondere in Afrika, in der Karibik und in der Pazifikregion immer wieder Forderungen erhoben, für das brutale Unrecht der Sklaverei und des Sklavenhandels, aus denen auch britische Adlige und die britische Bourgeoisie satte Profite zogen, endlich Entschädigungen zu zahlen. London weigert sich natürlich strikt. Damit gerät es aber immer stärker in die Bredouille. Im Oktober nahmen sich die 56 Staaten des Commonwealth of Nations auf ihrem diesjährigen Gipfeltreffen der Sache an. Britannien kann sich dem nicht gut gänzlich entziehen; schließlich nutzt es das Commonwealth als Einflussinstrument gegenüber seinen ehemaligen Kolonien. Kurz vor dem Gipfel hatte Premierminister Keir Starmer offiziell erklärt, in der Abschlusserklärung des Treffens dürfe von Entschädigungen nicht die Rede sein. Er scheiterte. In der Erklärung hieß es, man habe „Rufe nach Debatten über ausgleichende Gerechtigkeit“ für Sklaverei und Sklavenhandel zur Kenntnis genommen; man sei sich einig, „die Zeit für ein ernsthaftes, wahrhaftiges und respektvolles Gespräch“ darüber sei gekommen. Auch die nebulösen Formulierungen ließen keinen Zweifel: Was da zur Debatte stand, waren Entschädigungen, und die hatten einen materiellen Kern.
… und Forderungen nach Entschädigung
Wie zu erwarten, kündigte der britische Außenminister David Lammy Ende November an, London werde keinen Penny für Entschädigungen locker machen. Allerdings zeigt allein schon diese Aussage, dass die britische Regierung weiter unter Druck gerät. Und nicht nur sie. Auch für Frankreich beginnt es peinlich zu werden. Haiti etwa hatte ab 1825 immense Summen nach Paris überweisen müssen – als Gegenleistung für die ihm damals von der Kolonialmacht gewährte Unabhängigkeit. Port-au-Prince musste die Zahlungen bis 1947 tätigen; zeitweise beliefen sie sich auf rund 80 Prozent des haitianischen Staatshaushalts. Am 26. September 2024 forderte Edgar Leblanc Fils, damals Präsident des Übergangsrats, in einer Rede vor der UN-Generalversammlung, Frankreich müsse nun endlich „gerechte und angemessene Reparationen“ dafür leisten. Die Debatte gewann damit an Schwung.
Auch Deutschland wird sich in Zukunft womöglich ernsthafter als bisher mit dem Thema Entschädigung für Kolonialverbrechen befassen müssen. Bislang ist es der Bundesregierung immer wieder gelungen, die Forderungen der Herero und Nama nach Entschädigungen für den Genozid an ihren Vorfahren abzuwehren. Auch Entschädigungsforderungen aus Tansania, wo deutsche Truppen ab 1905 einen Vernichtungskrieg gegen die einheimische Bevölkerung führten – bis 1908 brachten sie in Ostafrika wohl rund 300.000 Menschen um –, hat Berlin regelmäßig ausgebremst. Die Herero und Nama aber geben bis heute nicht auf; auch in Tansania ist das Drängen auf Entschädigungszahlungen nicht verstummt. Die Initiativen aus den ehemaligen britischen und französischen Kolonien könnten ihnen durchaus wieder Auftrieb verschaffen.