Zu Erich Kästners 50. Todestag

Ach, Herr Kästner!

In diesem Jahr haben wir zwei Ereignisse, die Erich Kästner betreffen. Sein 125. Geburtstag war bereits im Februar, der 50. Todestag jährt sich am 29. Juli. Den meisten von uns ist Erich Kästner bekannt durch seine Kinderbücher. Aber er und sein Leben haben uns viel mehr zu sagen.

Im Jahr 1940, nach sieben Jahren als verbotener Autor, schrieb sich Erich Kästner selbst einen deprimierten Brief: „Der Teufel muß Dich geritten haben, daß Du Deine kostbare Zeit damit vergeudest, der Mitwelt zu erzählen, Kriege seien verwerflich … Es ist eine Anmaßung, die Welt, und eine Zumutung, die Menschen veredeln zu wollen.“

Wo die Kanonen blühn

Zu seinem 125. Geburtstag war einiges über Kästner zu lesen. Bestenfalls am Rande wurde gestreift, wogegen Kästner immer angeschrieben hatte: Militarismus und Kriegstreiberei.

„Auf den Schlachtfeldern von Verdun / wachsen Leichen als Vermächtnis. / Täglich sagt der Chor der Toten: / ‚Habt ein besseres Gedächtnis!‘“ / (Verdun, viele Jahre später.)

Es wäre ja nun wirklich für die vielen Medienarbeitenden ein Leichtes gewesen, sich seiner Warnungen zu entsinnen und sie heute den Politikern entgegenzuhalten:

„Wenn wir den Krieg gewonnen hätten / mit Wogenprall und Sturmgebraus, / dann wäre Deutschland nicht zu retten / und gliche einem Irrenhaus. / … Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – / zum Glück gewannen wir ihn nicht.“ (Die andere Möglichkeit)

„Das Herz versaut“ hat ihm nicht nur im übertragenen Sinn der sadistische Drill, als er 1917 mit 18 Jahren einberufen wird. (Die physische Schädigung des Herzens bewahrt ihn allerdings dann vor der Front.) „Er war ein Tier. Und er spie und schrie. Und Sergeant Waurich hieß das Vieh …“

Die Chauvinisten geißeln ihn als Vaterlandsverräter, als er in seinem ersten Gedichtband, zehn Jahre nach dem 1. Weltkrieg, Deutschland als Land der Kanonen und Unfreiheit darstellt: „Was man auch baut – es werden stets Kasernen. / Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? / Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“ Die Nutznießer benennt er in seinem Gedicht „Fantasie von übermorgen“, in dem die Frauen beim Beginn des nächsten Krieges Nein sagen, Bruder, Sohn und Mann in den Wohnungen einschließen, dann losziehen und die Militärs mit Stöcken aus den Häusern holen: „Sie legten jeden übers Knie, / der diesen Krieg befahl: / die Herren der Bank und Industrie, / den Minister und General.“

Das gemeine Volk hat ruhigzuhalten im Vertrauen auf die Obrigkeit und zu allen Attacken auf Leib und Leben „Dankesehr“ zu sagen – so die Empfehlungen im „Knigge für Unbemittelte“:

„Ihr sollt nicht denken, wenn ihr sprecht! / Gehirn ist nichts für kleine Leute. / Den Millionären geht es schlecht. / Ein neuer Krieg käm ihnen recht.“

Seine politischen Gedanken äußert er in lockerem Ton. Kurt Tucholsky kritisiert die Unschärfe seiner Satiren, die die Realität zu allgemein und moralisch anprangern. Ironisch merkt Tucholsky an: „Da pfeift einer bei Windstärke 11 ein Liedchen.“ Kästner legt seine Hoffnung auf Vernunft, die durchzusetzen er als Aufgabe intellektueller Eliten sieht. Er bleibt auf der Erscheinungsebene. Klassenmäßige Einsichten bleiben ihm – im Gegensatz zu Tucholsky – fremd. „Bei Wotans Donner, jetzt beginnt / die Dummheit als Volksbewegung. / … / Kein schöner Tod ist auf der Welt / als gleich millionenweise. / Die Industrie gibt neues Geld / und Waffen zum Selbstkostenpreise.“ (Ganz rechts zu singen)

Halb Bürgerschreck …

Die DDR-Literaturgeschichte würdigt Kästner zutreffend: „Unverkennbar war sein antiimperialistischer Impuls, seine demokratische und humanistische Opposition gegen die gesellschaftlichen Kräfte in der Weimarer Republik, die die Traditionen des wilhelminischen Militarismus aufrechterhielten.“

Immer wieder klingen Enttäuschung und Unverständnis darüber an, dass die Menschen nichts begreifen. So zum Beispiel in „Stimmen aus dem Massengrab“: „Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.“ Sein Ansatz ist, dass der Einzelne sich ändern müsse, wenn sich in der Welt was ändern soll. Der befreundete Schriftsteller Hermann Kesten bezeichnet sie beide als „Moralisten und Satiriker“ und berichtet von ihrer Übereinstimmung: „Wir waren beide radikal und keine Marxisten … Wir schlossen uns keiner politischen Partei an und ergriffen Partei, politisch und literarisch, wo es um Gerechtigkeit ging, um die Freiheit und gegen alle soziale Unterdrückung, gegen Militarismus, Chauvinismus und Unmenschlichkeit.“ Es hat damals nicht gereicht, es reicht auch heute nicht. Die DDR-Literaturgeschichte analysiert treffend sein „Dilemma eines isolierten kleinbürgerlich-demokratischen Intellektuellen, der zwischen den Hauptklassen der imperialistischen Gesellschaft zu stehen meint“.

… halb erschrockener Bürger

Seinen Erfolg in der Weimarer Republik verdankte Kästner in nicht geringem Maße der Tatsache, dass er dem Unbehagen der Zwischenschichten an der kapitalistischen Gesellschaft Ausdruck verlieh und einen Ausweg in einer Haltung von Vernunft und Moralität lieferte. Sich an die Seite der Arbeiterklasse zu stellen, in ihr eine treibende Kraft zu sehen, kam ihm nicht in den Sinn. Tucholsky kritisierte an ihm – bei aller Hochschätzung – „eine gewisse Enge der Opposition“ und „Kleinlichkeit“. Sein Zeitgenosse, der österreichische Schriftsteller Robert Neumann, charakterisiert ihn Ende der 1920er Jahre als: „Halb ein Bürgerschreck und halb ein erschrockener Bürger.“

Aus seiner moralisierenden Resignation heraus ist nachvollziehbar, dass Kästner seinen Glauben an das Gute im Menschen auf Kinder und ihre Unschuld, ihre Unverdorbenheit projizierte. Sein erstes Kinderbuch: „Emil und die Detektive“ (siehe Seite 16). Andere bekannte sind: „Das fliegende Klassenzimmer“, „Pünktchen und Anton“, „Das doppelte Lottchen“, „Die Konferenz der Tiere“. In seinen Kinderbüchern – bei aller Hochschätzung – idealisiert er das kleinbürgerliche Milieu: Anstand, Zuverlässigkeit, Gutgläubigkeit. Und dennoch sind Kästners Kinderbücher wertvoll, weil sie Kinder als mutig, klug und selbstsicher darstellen. Bezeichnenderweise jedoch ist demjenigen seiner Kinderbücher der geringste Erfolg beschieden, in dem er sich deutlich gegen ein Krieg und Militarismus verherrlichendes Geschichtsbild ausspricht („Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“). Seine Romane für Erwachsene muss man demgegenüber als seichte Unterhaltung einstufen – mit einer Ausnahme: Fabian, oder wie der ursprüngliche Titel lautete: Der Gang vor die Hunde. An der Person des Fabian, die autobiografische Züge trägt, wird die Krise einer ganzen Gesellschaft demonstriert. Arbeitslosigkeit und Elend, die Wirtschaftskrise, die Krise der Parteien, der moralische Verfall, der Verrat der intellektuellen Zeitungsredakteure, die wider besseren Wissens das herrschaftsseitig Gewünschte schreiben.

Kästner bleibt

1933 steht er in der Menge und muss zusehen, wie seine Bücher auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Viele seiner Dichterkollegen emigrieren ins Ausland. Als der Reichstag brennt, hält er sich gerade in der Schweiz auf, wird von seinen Freunden gedrängt, nicht zurückzukehren. Er selbst unterschätzt wohl noch immer die Gefahr, ja, rät sogar zum Verbleib in Deutschland – ein Rat, den er später bereut. Neben seiner Einstufung als „undeutscher Geist“ hätte er noch einen weiteren Grund gehabt, sich von Deutschland fernzuhalten. Denn nach der faschistischen Rassentheorie war er ein „getarnter Halbjude“. Sein Vater war nicht der Ehemann von Mutter Ida, sondern der Hausarzt der Familie, Dr. Emil Zimmermann, jüdischen Glaubens.

„Mich läßt die Heimat nicht fort“, begründet er sein Bleiben. Er könne anderswo nicht leben. Viele seiner Chronisten mutmaßen, dass er unterschätzt habe, was Faschismus an der Macht bedeuten würde. Ein nicht unwesentlicher Grund dürfte jedoch gewesen sein, dass er seine Mutter nicht verlassen wollte. Sein Verhältnis zu ihr ist als toxisch zu werten. Ida Kästner, eine schwer depressive und in ihrer Ehe unglückliche Frau, investiert ihren ganzen Ehrgeiz, ihre ganzen Hoffnungen in ihren Sohn. Sie erpresst seine Aufmerksamkeit und Zuwendung gnadenlos: Mehrmals findet der kleine Junge Erich beim Nachhausekommen von der Schule einen Zettel auf dem Tisch: Sie könne nicht mehr. Er solle sie nicht suchen. Er hetzt weinend durch die Stadt, findet seine Mutter auf dem Brückengeländer stehend, scheinbar bereit zum Sprung. Er fleht und bettelt, bis sie heruntersteigt. Erich wird der Musterknabe, den sie sich wünscht und herandressiert. Als Erwachsener wird er ihr fast täglich Briefe und Karten schreiben.

Vom Kakao getrunken

Kästner selbst sucht nach Rechtfertigungen für sein Bleiben. Er müsse als literarischer Beobachter ausharren, wolle einen dokumentarischen „Zeitroman“ schreiben – ein nie umgesetztes Unterfangen. Einige Zeit fliegt er unter dem Radar der faschistischen Machthaber. Sie vermuten, der „Kulturbolschewist übelster Sorte“ halte sich in Prag auf. Zwar sind seine Bücher verboten, doch „Emil und die Detektive“ steht noch in den Regalen, die Verfilmung läuft in den Kinos Berlins, mit Kästners Namen auf den Plakatsäulen. Doch 1936 ist damit Schluss und alles von ihm verboten. Zweimal holt ihn die Gestapo und verhört ihn, zeigt ihm damit, dass sie jederzeit Zugriff auf ihn hat und keinen Widerstand dulden würde. Ihm bleiben Erfolge im Ausland, Druck seiner Bücher, auch Verfilmungen und Theaterstücke.

Seinen 1932 veröffentlichten Gedichtband „Gesang zwischen den Stühlen“ eröffnete er mit einem Vierzeiler: „Was auch immer geschieht: / Nie dürft ihr so tief sinken, / von dem Kakao, durch den man euch zieht, / auch noch zu trinken.“

Kein Nachgeborener kann für sich garantieren, dass er dem Terror der Faschisten hätte widerstehen können. Noch heute verneigen wir uns vor all den bekannten und den vielen unbekannten kämpfenden Frauen und Männern des Widerstands. Das bedeutet auch zu benennen, dass Kästner zu denen gehörte, die sich mehr angepasst haben als nur das Genick einzuziehen. Er versuchte, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden und pries dafür sogar seinen „Emil“ als ein „ausgesprochen deutsches Buch“ an. Auf die persönliche Bitte von Goebbels schrieb er 1942 unter dem Pseudonym Berthold Bürger das Drehbuch zu „Münchhausen“, dem Jubiläumsfilm der Ufa. Klaus Mann sagte zu Kästners Roman „Drei Männer im Schnee“: „Mit welcher Fixigkeit das hinuntergleitet, ganz hinab, bis zum morastigen Schlammgrund der Ufa-Presse …“ Aus einem nach 1945 für die US-Militärregierung ausgefüllten Fragebogen geht hervor, dass Kästner mit seinen Ufa-Projekten 115.000 Reichsmark verdient hatte.

Nach 1945 versucht Kästner, für sich den kleinen Widerstand zu reklamieren. So berichtet er, dass er bei einer Boxveranstaltung im Berliner Sportpalast nicht den Arm gehoben und auch nicht das Horst-Wessel-Lied gesungen habe, obwohl ihn Hunderte drohend ansahen.

Doch so bitter es ist: er hat von dem Kakao getrunken.

Außer: man tut es

Einsicht? Schuld? Sühne? Nach 1945 mehren sich Zweifel und Selbstvorwürfe, auch wenn er nie offen über seine Kompromisse spricht. Als Feuilletonchef der „Neuen Zeitung“ versucht er zur Aufklärung über die Gräuel des Faschismus beizutragen. Bald ist er wieder literarisch tätig, mit Bühnenprogrammen unter anderem bei „Der Kleinen Freiheit“, und kämpft gegen die Restauration und das Vergessen an:

„Hauptsache, daß wir wieder Ordnung kriegen. / Und das deutsche Rückgrat wieder gradebiegen. / Und daß wir wieder mal richtig liegen. / Und, wenn es sein muß, zum drittenmal siegen.“

Er engagiert sich gegen die Wiederaufrüstung, gegen die Verjährung von Naziverbrechen, gegen den Vietnamkrieg, nicht nur mit der literarischen Waffe, sondern auch durch persönliches Auftreten. „Es gibt nichts Gutes außer: man tut es“, schreibt er. Beim Ostermarsch 1961 spricht er auf dem Königsplatz in München und brandmarkt den „Routinetraum deutscher Generäle“, die westliche Welt mit Atomwaffen retten zu wollen: „Die Herren haben bekanntlich den Ersten und den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Denn wo nähmen sie sonst die großen Worte her? Welches Argument könnten sie sonst für ihre dritte Siegeszuversicht ins Treffen führen?“

Er bleibt Idealist und Moralist. Er sieht in der Dummheit das Grundübel, resigniert zunehmend. Ab den 1950er Jahren trinkt er öfter und mehr Alkohol. Immer wieder Krankheiten, Kuraufenthalte. Am 29. Juli 1974 stirbt er in einem Münchner Krankenhaus. Offizielle Todesursache: Speiseröhrenkrebs.

Alles, was Kästner beklagte, ist heute noch und wieder da. Man wäscht ihn weich und erspart ihm nicht die Schande, seinen Antimilitarismus zu unterschlagen. Sorgen wir dafür, dass diese Seite seines Schaffens nicht in Vergessenheit gerät. Erich Kästner ist uns Bündnispartner gegen die Kriegstreiber heute in ihrer zerstörerischen „dritten Siegeszuversicht“. Ehren wir ihn, wie wir alle wahrhaften Humanisten ehren. Und vergessen wir dabei nicht, dass man zwischen den Stühlen auf Dauer nicht sitzen kann.

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"Ach, Herr Kästner!", UZ vom 26. Juli 2024



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