Mehr russisches Gas durch ukrainische Pipelines?

Absurditäten des Krieges

Kolumne

Verkehrte Welt? Da meint man, die Kernforderungen der Ukraine inzwischen doch recht gut zu kennen – ein Boykott russischer Energieträger gehört allemal dazu. Und was tut die Kiewer Regierung hinter den Kulissen, wie man vergangene Woche erfahren konnte? Sie macht sich dafür stark, mehr russisches Erdgas durch ihre Pipelines zu leiten. Was denn nun – kein Gas mehr aus Russland oder doch lieber größere Mengen davon?

An den Pipelines, die Erdgas aus Russland in Richtung Westen leiten, kann man zurzeit Absurditäten gut beobachten, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt. Russland liefert fleißig, zum einen durch die Röhren, die über ukrainisches Territorium verlaufen, zum anderen über Nord Stream 1. Klar: Es verdient damit gutes Geld, das es – arg gebeutelt von den westlichen Sanktionen – wohl nötiger braucht denn je. Andererseits hält es so die Ökonomie der EU-Staaten am Laufen, die ihm mit Sanktionen und mit Waffenlieferungen an die Ukraine an den Kragen wollen. Und: Es muss der Ukraine, die es ja bekanntlich militärisch niederzuwerfen sucht, Durchleitungsgebühren zahlen. Der Betrag wird auf mehr als eine Milliarde US-Dollar pro Jahr geschätzt. Gazprom finanziert demnach, wenn man so will, die ukrainischen Streitkräfte mit, die die russischen Truppen erbittert bekämpfen.

Jörg Kronauer - Absurditäten des Krieges - Gas, Russland, Ukraine - Internationales
Jörg Kronauer

Das wiederum ist der Grund dafür, dass die ukrainische Regierung sich dafür einsetzt, die EU-Staaten sollten darauf dringen, weniger Erdgas über Nord Stream 1 und stattdessen mehr über das ukrainische Pipelinenetz zu erhalten. Theoretisch könnte Kiew seine Pipelines ganz einfach stilllegen, um Moskau zu schädigen. Nur: Das würde ihm massiven Ärger mit den Staaten der EU einbringen, die noch in hohem Maß von russischem Erdgas abhängig sind. Wenn nun aber das Erdgas ohnehin fließt, wenn man es nicht stoppen kann – dann soll es, so lautet die Überlegung in Kiew, doch wenigstens so fließen, dass es Durchleitungsgebühren ins Land bringt. Gazprom hatte die Nord-Stream-Pipelines ja auch gebaut, um sich ganz profan Durchleitungsgebühren zu sparen. Das will ihm die ukrainische Regierung vermiesen, und sie will mehr Geld, um ihren Widerstand gegen das russische Militär zu finanzieren.

Und es kommt noch ein Weiteres hinzu. Wie schon um die Jahreswende, so fließt auch seit Kriegsbeginn immer wieder – und seit dem 7. April sogar kontinuierlich – russisches Erdgas aus Deutschland über die Jamal-Pipeline (Russland – Belarus – Polen) in Richtung Osten zurück. Das liegt daran, dass irgendwo im Osten, eventuell in Polen, Erdgas benötigt wird, aber aus politischen Gründen nicht direkt in Russland gekauft werden soll. Auch die Ukraine kauft Erdgas im sogenannten „reverse flow“ – das heißt, sie bezieht es aus EU-Staaten, häufig aus der Slowakei, um es nicht unmittelbar bei Gazprom erwerben zu müssen. Solange die EU von russischem Erdgas abhängig ist, ist die Ukraine dies daher auch. Wenn sie offiziell also den sofortigen Boykott von Energieträgern aus Russland fordert, dann fordert sie sozusagen auch schwere Einbrüche in ihrer eigenen Energieversorgung – ein unangenehmer Widerspruch.

Was tun? Das Beste wäre natürlich, den ganzen Widersinn zu stoppen, den Krieg zu beenden und die Embargopläne zu den Akten zu legen, um zur einstigen Kooperation zurückzukehren. Nur so ließen sich, nebenbei, die Energiepreise wieder auf ein erträgliches Niveau senken. Die Aussichten, dass es dazu kommt, gehen freilich gegen null: Längst ist der Ukraine-Krieg in einen unerbittlichen Machtkampf zwischen dem Westen und Russland übergegangen, in dem es für den Westen darum geht, Russland ein für allemal komplett niederzuringen, um die westliche Dominanz in der Welt zu wahren. Solange dieser Machtkampf tobt, stehen die Aussichten für einen rationalen Umgang mit russischem Erdgas und damit auch für geringere Erdgaspreise schlecht. Ein Grund mehr, dem westlichen Kampf um die Weltmacht gegen Russland ein Ende zu setzen.

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"Absurditäten des Krieges", UZ vom 29. April 2022



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