Die Schattenseite im „Wohlfühl-Land“

Abstiegsängste

Von Manfred Dietenberg

Die Arbeiter in Deutschland sind stark verunsichert. Das belegt der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB mit der gerade erschienenen Studie „Abstiegsängste in Deutschland“. Die Studie sollte eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen mit Abstiegsängsten besonders oft die AfD wählen. Das Fazit lautet, dass sich die AfD das Gefühl einer allgemeinen „sozialen Verunsicherung“, zunutzen mache, so die Autorin der Studie. Spätestens seit den letzten Landtags- und Bundestagswahlen ist der DGB alarmiert: Gewerkschafter haben überproportional die AfD gewählt.

Abstiegsangst kommt nicht von ungefähr. Um das zu erkennen, hätte es dieser Studie nicht bedurft. Liegt doch z. B. die Armutsquote im reichen Deutschland bei fast 20 Prozent, und Wohnen wird für immer mehr Menschen zum Luxus. Die Studie legt nun offen, dass hierzulande trotz anderslautender bürgerlicher Propaganda die Abstiegsangst unter allen Beschäftigten grassiert, besonders heftig unter den Geringverdienern. Gerade von den Beschäftigten, die sich nicht nur „gefühlt“ zum ärmsten Zehntel rechnen, machen sich 87 Prozent Sorgen um ihren Lebensstandard und ihre „soziale Positionierung“ in der Zukunft. Mit ihrer Angst sind sie nicht allein.

Nicht ganz so heftig, aber doch immerhin fast jeder Zweite (47,6 Prozent) des „reichsten“ Zehntels macht sich auch Sorgen um seine finanzielle Situation und soziale Positionierung in der Gesellschaft. Auch „ganz oben“ plagt diese Angst spätestens dann, wenn der Dax absackt, das Depot an Wert verliert oder sich im Alter die ersten Zipperlein und anderes gesundheitliches Ungemach einstellen. Abstiegsängste sind demnach nicht nur unter jenen verbreitet, die wenig haben, sondern auch unter denen, die viel zu verlieren haben.

Die Böckler-Studie stellt fest, dass die Abstiegsängste „mehrere Dimensionen“ haben. Die Sorge um den Arbeitsplatz nimmt dabei überraschenderweise nicht mehr die entscheidende Rolle ein. Egal ob in West- oder Ostdeutschland, zwei Drittel der Befragten machen sich keine oder nur geringe Sorgen um ihre Arbeitsplatzsituation. Doch immerhin 13 Prozent derer, die sich keine oder nur geringe Sorgen um ihren Job machen, rechnen damit, dass sich ihre finanzielle Situation in der näheren Zukunft verschlechtern wird.

Selbst von denen mit einem monatlichen Einkommen von über 4 000 Euro macht sich noch jeder dritte Sorgen um seinen Lebensstandard und sein Einkommen. Die Sorge, den eigenen Lebensstandard nicht langfristig halten zu können, treibt mehr als 80 Prozent der Geringverdiener um, aber auch knapp 40 Prozent der Top-Verdiener. Abstiegsängste sind demnach nicht nur unter jenen verbreitet, die wenig haben, sondern auch unter jenen, die viel zu verlieren haben. Abstiegsängste haben viel mit dem Gefühl des „Ausgeliefertseins“ zu tun.

Selbst von denen mit mehr als 4 000 Euro Einkommen stimmte ein Drittel der Aussage zu, „was mit mir passiert, wird irgendwo draußen in der Welt entschieden“, berichtet die Autorin der Studie. Diese Abstiegsängste fußen aber auch auf konkreten Erfahrungen am Arbeitsplatz, zum Beispiel bei Menschen, die ständigem Druck und zunehmender Arbeitsverdichtung ausgesetzt sind. „Abstiegsängste speisen sich auch aus dem Gefühl, den gesellschaftlichen Veränderungen, die Digitalisierung oder Globalisierung mit sich bringen, ausgeliefert zu sein. Sie sind nicht zuletzt Ausdruck des Gefühls, die Kontrolle über die Gestaltung des eigenen Lebens verloren zu haben“, so die Autorin der Studie.

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"Abstiegsängste", UZ vom 2. März 2018



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