Der Einzelhandel gehört zu den umsatz- und beschäftigungsstärksten Wirtschaftssektoren in unserem Land. Derzeit arbeiten dort mehr als drei Millionen Menschen. Um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten der weiteren Profitmaximierung unterzuordnen, scheren seit etwa Mitte der Neunzigerjahre immer mehr Einzelhandelsunternehmen aus den Flächentarifverträgen aus. Das Ergebnis: Im Handel malocht nur noch jeder zweite zu branchenweit geltenden Löhnen – im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent, so eine Studie des Münchner Ifo-Instituts. In Ostdeutschland erhält sogar nur noch jeder dritte Beschäftigte Tariflohn. Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient im Durchschnitt ein Viertel weniger.
Im Einzelhandel gibt es die meisten Beschäftigten, die von ihrem Lohn nicht leben können. Und wen wundert’s, in nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarifbindung gibt es einen Betriebsrat. Das alles ist gut für das Geschäft.
Die Umsatzrendite im Einzelhandel liegt stabil um die 3,5 Prozent, das bedeutet, mit einem Euro, der für Personalkosten ausgegeben wurde, konnten 2014 31 Cent an Brutto-Gewinn gemacht werden. Eingedenk dessen formulierte die für die Branche zuständige Gewerkschaft zu Beginn der Tarifrunde 2015: „Klar und deutlich: Die Beschäftigten im Handel wollen in der anstehenden Tarifrunde ihren Anteil an den steigenden Gewinnen der deutschen Händler! … Damit ist im Sommer 2015 schon mal eines sicher: Gute Arbeit hat ihren Preis und gute Beschäftigte haben Anspruch auf eine ordentliche Tariferhöhung!“. Konkret: ver.di forderte für diese Tarifrunde für die Beschäftigten im Einzelhandel bei einer Laufzeit von zwölf Monaten: Erhöhung der Gehälter, Löhne und Vergütungen für Auszubildende um einen Euro pro Stunde und ein tarifliches Mindesteinkommen von 1 850 Euro. Darüber hinaus forderte ver.di die Unternehmerseite auf, die Tarifverträge des Einzelhandels für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, um weiterer Tarifflucht und um sich greifenden Dumpinglöhnen zu begegnen.
Beinharte Linie der „Arbeitgeber“
In der ersten Verhandlungsrunde im Einzelhandel Baden-Württemberg legten die Herren Handelsvertreter ein völlig unzureichendes Angebot vor. Das vorgelegte Angebot sah bei einer Laufzeit von 21 Monaten folgende Komponenten vor: Erhöhung der Löhne und Gehälter im ersten Jahr um 1,5 Prozent (nach einem Nullmonat) und eine nicht tabellenwirksame Einmalzahlung im zweiten Jahr in Höhe von 215 Euro in zwei Raten, für die Azubis boten sie 107,50 Euro.
Dieses Angebot wurde von ver.di zurückgewiesen. Ihr Verhandlungsführer Bernhard Franke erklärte: „Die Beschäftigten des Einzelhandels erwarten kräftige und dauerhaft wirkende Erhöhungen. Ihre Einkommen reichen häufig kaum aus, um die anfallenden Kosten des täglichen Lebens bestreiten zu können – im Alter droht Altersarmut. Angesichts der anhaltend guten Wirtschaftsentwicklung können die Unternehmen deutliche Erhöhungen gut verkraften.“
Begleitet von beeindruckenden Warnstreiks und Kundgebungen der KollegInnen des Einzelhandels ging die Tarifauseinandersetzung nicht nur in Baden–Württemberg, sondern auch in den übrigen Tarifbezirken heftig weiter. Mitten in den Tarifkampf platzte die Meldung, dass die Metro-Tochter Real (38 000 KollegInnen) aus der Tarifbindung ausschert und sie innerhalb des Handelsverbands Deutschland (HDE) in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung wechselt. Unternehmen ohne Tarifvertrag hätten deutlich bessere Kostenstrukturen als tarifgebundene Betriebe.
ver.di erklärte, die Gewerkschaft werde eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ in der Belegschaft nicht akzeptieren. Tausende Beschäftigte haben sich landauf, landab an Streiks und Protestaktionen beteiligt. Am Ende der schwierigen Tarifauseinandersetzung steht trotz beeindruckender Streikbereitschaft der Beschäftigten und beachtlicher Mobilisierung jetzt zum Auftakt der Sommer-Rabattaktionen ein Tarifvertrag, der ab 1. Juli 2,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt vorsieht, ab 1. April 2016 weitere 2 Prozent, beide Male tabellenwirksam. Das heißt, die neuen Entgelte gelten auch bei Neueinstellungen. Auch für die Auszubildenden gibt es ab 1. August 2,5 Prozent mehr und ein Jahr später weitere 2 Prozent.
Erst ab 2018 erhalten die KollegInnen im Osten nun endlich das gleiche Weihnachts- und Urlaubsgeld wie ihre KollegInnen im Westen – zwölf Jahre lang hatte ver.di die Ost-West-Angleichung gefordert. Im Einzel- und Versandhandel in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird zum 1. September 2015 in Höhe von 2,5 Prozent und zum 1. Juni 2016 in Höhe von 2 Prozent tabellenwirksam erhöht. Die Ausbildungsvergütungen werden 2015 um 2,5 Prozent und 2016 um 2 Prozent jeweils zum 1. September erhöht. „Eine Verkäuferin z. B. bekommt dadurch insgesamt eine Erhöhung in diesen beiden Jahren von 64 Cent pro Stunde“, so
ver.di -Verhandlungsführer Jörg Lauenroth-Mago.
Höherer Organisationsgrad erforderlich
Die Kampfbedingungen waren nicht einfach. Der Einzelhandel zeichnet sich als Branche durch einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aus, durch merklich schwindende Tarifbindung und einen Strukturwandel hin zu immer mehr prekärer Beschäftigung bei hoher Fluktuation der Belegschaft.
Die ver.di-Forderung, die unteren Einkommen stärker aufzuwerten, war richtig, gelang dank einmaliger Festgeldbeträge aber nur teilweise. Nur eine Minderheit der Beschäftigten wird von dem jetzt abgeschlossenen Tarifabschluss „profitieren“. Bis zum Jahr 2000 galten die Tarifverträge im Einzelhandel für alle Betriebe und alle Beschäftigten. Seit der Aufkündigung dieser Regelung dauert die Tarifflucht in der Branche an – mit verheerenden Folgen für das Entgeltniveau. Deswegen forderte die Gewerkschaft ja den Abschluss als allgemeinverbindlich für die Branche erklären lassen, damit Tarifflüchtlinge wie z. B. real so zur Gewährung der tariflichen Bedingungen an ihre Beschäftigten gezwungen wären.
Doch diese ver.di-Forderung konnte nicht durchgesetzt werden. ver.di-Sekretär Bernhard Franke erklärte dazu „Sehr bedauerlich … aber hier haben wir bei den Arbeitgebern auf Granit gebissen.“ Dies, obwohl sich unter den reichsten Deutschen mehrere Besitzer von Einzelhandelskonzernen befinden und die Einkommen der Beschäftigten nach wie vor im unteren Viertel der Einkommensskala sind.