Sean O’Caseys Theaterstück „Der Schatten eines Rebellen“ wurde vor 100 Jahren, am 12. April 1923, in Dublins irischem Nationaltheater „The Abbey Theatre“ uraufgeführt. Das Theater, das 1904 aus der Bewegung zur Erneuerung der irischen Literatur entstanden ist, ermutigte Schriftsteller aus dem Volk und bot eine Plattform für die Verbreitung fortschrittlicher Ideen auf der Bühne. „Der Schatten eines Rebellen“ ist das erste von O’Caseys drei Dubliner Stücken, die die Reife und das Geschick des Volkes an drei historischen Momenten der irischen Geschichte – dem Osteraufstand (1916), dem Unabhängigkeitskrieg (1918 – 1921) und dem Bürgerkrieg (1922/1923) – aufzeigen, deren Zeitzeuge O’Casey war.
Als erster englischsprachiger Dramatiker proletarischer Herkunft betrat er damit die Bühne des Welttheaters. In seinen Stücken geht es um den Kampf für die Emanzipation des irischen Volkes und somit implizit aller arbeitenden Menschen von Armut, Unwissenheit und Ausbeutung, für die Schaffung einer neuen, humanen Gesellschaft.
1880 in Dublin geboren, geriet O’Casey noch vor der großen Aussperrung von 1913 unter den Einfluss Jim Larkins, des legendären Gewerkschafters und – gemeinsam mit James Connolly – der treibenden Kraft in diesem Klassenkampf. Von da an lässt sich O’Caseys Reifung als klassenbewusster Sozialist und kommunistischer Internationalist verfolgen. Gleichzeitig blieb er den besten Traditionen des irisch-republikanischen Nationalismus treu.
In den Jahren vor dem Aufstand von 1916 kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Connolly, der die Führung des linken Flügels der Bewegung von Larkin übernommen hatte, über Connollys Bestrebung, militante Arbeiter mit den patriotischen bürgerlichen Nationalisten zu verbünden, die im Kampf von 1913 ihre Klassenfeinde gewesen waren. Aus diesem Grund nahm O’Casey nicht am Osteraufstand teil und fand auch keinen Platz mehr in dieser organisierten Bewegung.
Zunehmend wurde er so zum Kommentator zeitgenössischer Entwicklungen aus revolutionär-proletarischer Perspektive, während er seinen Lebensunterhalt weiterhin als Arbeiter verdiente. Gleichzeitig bildete er sich autodidaktisch. Zwischen 1920 und 1922 beschloss er, sich dem Drama als Möglichkeit revolutionären Handelns zuzuwenden.
Zu diesem Zeitpunkt sah er seine wachsenden Befürchtungen um das Schicksal der irischen Revolution auf tragische Weise bestätigt. Irland war in dem Jahrzehnt von 1911 bis 1921 trotz aller Vorbehalte eines der Sturmzentren der Revolution gewesen. Doch diese Revolution wurde verraten und das Volk vorerst besiegt. Es musste Bilanz gezogen werden.
Das Jahr 1913 war die entscheidende Erfahrung, durch die sich die irischen Arbeiter als Klasse bewusst wurden, eine Einsicht, die O’Casey teilte. Doch 1922 hatte die irische Bourgeoisie das Volk hintergangen und mit der britischen Regierung den irischen Freistaat gegründet – eine fatale Entwicklung, die einen tragischen und blutigen Bürgerkrieg nach sich zog.
In den Dubliner Stücken, „Der Schatten eines Rebellen“ (1923), „Juno und der Pfau“ (1924) sowie „Der Pflug und die Sterne“ (1926), machte sich O’Casey an die Aufgabe, die irische Arbeiterklasse mit allen ihren Schwächen, Illusionen und Selbsttäuschungen zu zeigen, die seiner Meinung nach zu dieser Niederlage beigetragen hatten.
Starke Frauen, schwache Männer
Das Stück spielt mitten im Unabhängigkeitskrieg, im Mai 1920, in Seumas Shields Zimmer in einer Mietskaserne in Dublin. Der 30-jährige Donal Davoren, Verfasser romantischer Verse, teilt sich das Zimmer mit Seumas, dem 35-jährigen Hausierer und einstigen Patrioten, der sich nun in Religion, Aberglauben und ins Bett zurückgezogen hat. Die Slumbewohner sind der Überzeugung, Davoren sei ein bewaffneter IRA-Kämpfer auf der Flucht und sichern ihm ihre Unterstützung zu. Geschmeichelt belässt er sie in diesem Glauben, vor allem als sich die junge glühende Patriotin Minnie Powell in ihn verliebt.
Zu den Slumbewohnern zählen des Weiteren Mr. Grigson, ein alkoholkranker Englandtreuer, der von seiner Frau Mrs. Grigson angehimmelt wird, Mrs. Henderson, Bewunderin des kleinen Angestellten Mr. Gallogher und seiner vorgeblichen literarischen Fähigkeiten, sowie neben Minnie Powell auch Tommy Owens, der immer wieder erklärt, er sei bereit, für Irland zu sterben. Sie alle ersehnen sich etwas Glanz von dem vermeintlichen Revolvermann Davoren.
Ein Freund von Seumas, Maguire, kommt und hinterlässt eine Tasche, in der sich angeblich Hausiererwaren befinden. Als die Nachricht eintrifft, dass Maguire bei einem Überfall getötet wurde, wird klar, dass es sich hier um einen echten IRA-Revolvermann gehandelt hat. Britische Truppen stürmen das Mietshaus. Seumas und Davoren entdecken zu ihrem Entsetzen, dass die Tasche Bomben enthält. Als die Männer die Tasche nun loswerden wollen, versteckt Minnie sie beherzt in ihrem Zimmer, ohne dass die Männer sie daran hindern. Die Soldaten terrorisieren die Mieter und entdecken die Bomben. Minnie wird verhaftet und versehentlich erschossen, als die IRA den Briten auflauert, während sie Minnie abführen. Die Frauen, insbesondere Mrs. Henderson, stellen sich den Eindringlingen entgegen, während die Männer vor ihnen kriechen. Nach der Katastrophe verhöhnt Davoren die eigene und Seamus’ Rückgratlosigkeit.
O’Casey stellt das Leben in den Dubliner Slums als durch Armut und Perspektivlosigkeit, Krieg, Terror und gewaltsamen Tod gekennzeichnet dar. Ihre Bewohner erscheinen nicht wie wirkliche Widerständler. Der eigentliche Freiheitskämpfer Maguire geht unerkannt durch ihre Mitte, streift sie nur kurz, im Gegensatz zu den Mechanismen der Unterdrückung, die massiv präsent sind, vor allem die britische Armee.
Die handelnden Figuren
O’Casey zeichnet im Gegensatz zum romantischen Bild eines geeinten, heldenhaften Volkes Uneinigkeit, Eskapismus, Desillusionierung einerseits und Illusionen andererseits, mangelnde Führung sowie die Unfähigkeit, realistisch die eigene Lage zu konfrontieren.
Wie wird dies künstlerisch umgesetzt?
Zu Beginn des Stücks geht es um eine schriftliche Beschwerde von Mr. Gallogher bei der IRA über einige ihm unliebsame Nachbarn, Leute seiner eigenen Klasse, in der er darum bittet, dass die IRA gewaltsam einschreitet. Seine Rebellion nimmt die Form eines umständlichen Briefes an, in dem er sein Anliegen nur undeutlich artikuliert. Dennoch bewundern ihn die Umstehenden. Diese Faszination mit der vermeintlichen Macht des Wortes wird durch Mangel an wirklicher Bildung und Religion verstärkt. In diese Kategorie fallen auch die patriotischen Lieder, die im Stück anklingen und Taten ersetzen.
Doch widersetzen sich die Handelnden auch auf andere Weise einer realistischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ihrer Lage. So zum Beispiel unterwirft sich Mrs. Grigson dem biblischen Dogma, „Das Weib sei dem Manne untertan“, obwohl Mr. Grigson viel Zeit in der Kneipe verbringt und sie ihn in seiner Abwesenheit realistischer sieht.
Auch Minnie Powell widersetzt sich ihrem Verstand: Sie verliebt sich in den romantischen Mythos vom Freiheitskämpfer und seiner hingebungsvollen Geliebten, die bereit ist, ihr Leben für ihn zu opfern. Auch sie erkennt nicht, dass Maguire der wahre „Gunman“ ist. Sie selbst erzeugt den Schatten eines Revolvermanns, der sie zerstört: ihr Heldentum wird zum leeren Heldentum – auch sie wird zum Schatten einer Heldin. Mut und Hingabe, die Menschen zu ihrer Befreiung dienen sollten, verkehren sich hier ins Gegenteil und tragen zu ihrer Zerstörung bei.
O’Casey schafft vielfältige Parallelen in diesem Stück, die einerseits der Verallgemeinerung dienen, aber auch dem Tragischen eine komisch-groteske Seite verleihen. Minnies Unterwürfigkeit Davoren gegenüber findet ihre Parallele bei Mrs. Grigson. Zu dem, worüber man lachen kann, gewinnt man Abstand, und das trägt letztlich dazu bei, dass man es überwinden kann.
Der Glaube an die Macht des Wortes, des Zeichens, wird im zweiten Akt auf die Probe gestellt und erweist sich als nutzlos. Weder die Heiligenfiguren und Bilder in Seumas’ Zimmer noch ihre „loyalistischen“ Gegenstücke schützen die Mieter vor der Willkür der britischen Soldaten, die die Bibel zu Boden werfen und Grigson zwingen, zu ihrer Belustigung zu beten und zu singen – nun wird das Wort vom Feind kontrolliert.
Donal Davoren und Seumas Shields sind Menschen mit intellektuellen und kulturellen Ambitionen und Einsichten, die in den Augen der Gemeinschaft, der sie entstammen, eine Führungsrolle übernehmen könnten – sie teilen bestimmte Eigenschaften mit dem Volk. Seumas Shields war einst ein aktiver und kultivierter, belesener Patriot, der „sechs Abende die Woche Irisch gab“ (1. Akt).
Doch besteht ein Widerspruch zwischen Einsicht und Tat. Seumas’ Einsichten degenerieren zu unproduktiven Ritualen, die das Agieren ersetzen. Seumas hat sich aus dem Leben und der Verantwortung zurückgezogen, ohne Loyalitäten, ohne echte Beziehungen zu anderen. Seine Bildung ist zu pedantischem Wissen verkümmert. Auch Religion ist keine Hilfe – britische Soldaten verhöhnen ihn und seine Heiligenfiguren. Er erkennt auch Maguires wahre Bestimmung nicht, obwohl es Anzeichen für seine Mitgliedschaft in der IRA gibt – Seumas kann Form und Inhalt nicht mehr zuordnen. Hätte er Maguire als Revolvermann erkannt, wäre Minnies Tod vielleicht vermeidbar gewesen. Auch Seumas ist ein Schatten dessen, was er hätte sein können. Es gelingt der nationalen Befreiungsbewegung nicht, die breite Masse des Volkes zu erreichen: Maguire bewegt sich flüchtig und unerkannt durch sie hindurch.
Davoren erscheint zunächst als Gegenpol zu seinem Mitbewohner – ein aufstrebender Dichter, frei von Religion und Aberglauben. Und doch gibt es Parallelen. So zum Beispiel sind beide zu wichtigen Einsichten fähig und beide flüchten vor der Konsequenz, einem Handeln in Einklang mit diesen Einsichten. Davoren erkennt Minnies Bereitschaft zum Handeln. Im Gegensatz zu den anderen ist er in der Lage, über die Äußerlichkeiten hinaus zum Wesen vorzudringen. Er hat den Willen und die Fähigkeit, andere von ihrer Unwissenheit zu befreien.
Doch Davoren wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Er flieht vor dem Leben und verlässt nie sein Zimmer, auch nicht, als Minnie verhaftet wird. Er flüchtet sich in die Kunst um der Kunst willen, in den Elfenbeinturm, und obwohl er sprachlich bewusster ist, sind seine Gedichte in ihren Formulierungen so konventionell wie der Brief von Gallogher. Was für den Hausierer gilt, trifft auch auf den Dichter zu. Was auf den katholischen Republikaner zutrifft, gilt auch für den protestantischen Loyalisten.Wenn Davoren vor Minnie mit seinen vorgeblichen Gefechten prahlt, gibt er sich genauso selbstherrlich und selbstverliebt wie Grigson oder Tommy, obwohl er sich der Gefahr dieser Illusion stärker bewusst ist – seine Verantwortung für die Tragödie ist umso größer. Davoren wird sich dessen bis zu einem gewissen Grad bewusst, als Minnie getötet wird: „Schrecklich zu denken, dass die kleine Minnie tot ist, aber noch schrecklicher zu denken, dass Davoren und Shields am Leben sind!“
Maguire ist jedoch auch keine Alternative. Er taucht nur flüchtig auf und hinterlässt vor allem den Eindruck von Gedanken- und Verantwortungslosigkeit. Er ist für Minnies Tod ebenso verantwortlich wie Davoren. Der bedrohliche Schatten des echten und des falschen Revolvermanns liegt über der ganzen Szene. Er bestätigt die Behauptung von Seamus, dass die Revolvermänner nicht für das Volk sterben, sondern umgekehrt. Minnie wird nicht von den Briten, sondern von den „echten“ Schützen erschossen.
Die Tragödie besteht darin, dass das Volk keine Führer hat, die seinen Anforderungen und denen der Zeit gewachsen sind. Ihre besten Führer sind 1916 ermordet worden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Massen in absehbarer Zeit angemessene Führer hervorbringen können. Dennoch sind alle menschlichen Qualitäten, die für die Befreiung notwendig sind, im Volk, in seiner Widersprüchlichkeit verkörpert und verankert, auch wenn sie sich im Moment nur als potenziell positive Qualitäten manifestieren.
So hindert die Slumbewohner eine spontane Solidarität daran, Davoren zu verraten. Minnie und Maguire opfern ihr Leben für etwas, das über sie selbst hinausgeht und von dem sie glauben, dass es der Befreiung dient. Davoren lernt mühsam aus seinen Erfahrungen, gelangt in Ansätzen sogar zur Selbsterkenntnis. Und ihr Potential ist vielleicht auch in ihrer Sprache mit deren unbändiger Kraft und ihrem Erfindungsreichtum zu finden.
O’Casey legt so produktives Potenzial frei und verdeutlicht, dass die Geschicke in eine andere, bessere Richtung gelenkt werden könnten. Am besten kommt dies in Davoren zum Ausdruck, von dem das Publikum bis zum Schluss nicht sicher ist, welchen Weg er einschlagen wird.
Diese Interpretation fußt auf der Analyse des Vaters unserer Autorin in seinem Buch zu O’Caseys Werk:
Jack Mitchell
The Essential O’Casey. A Study of the Twelve Major Plays of Sean O’Casey
Berlin: Seven Seas Publishers