Jedes Jahr um den 3. Oktober herum wird in den höchsten Kreisen der bundesdeutschen Politik das Lied von den „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ in Ost und West gesungen. Mit Abstand dazu und deutlich leiser erscheinen dann die Studien, die beweisen, dass davon keine Rede sein kann. Vor zwei Wochen war es wieder einmal so weit, als der „Wegweiser Kommune“ der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurde. Das erwartbare Ergebnis: Trotz eines bescheidenen bundesweiten Bevölkerungszuwachses nehmen die Einwohnerzahlen in Ostdeutschland ab. Zudem steigt der Altersdurchschnitt immer weiter an.
Neu ist das nicht. Vor 20 Jahren ließ das Bundesamt für Statistik schon einmal die Bombe platzen. „Der Osten stirbt aus“, verkündeten die Schlagzeilen im April 2004. Die Politik gab sich besorgt, die Gemeinden fürchteten sich und der für den „Aufbau Ost“ zuständige Minister Manfred Stolpe (SPD) kündigte neue Förderkriterien an. Seitdem hagelte es leere Versprechen und symbolische Albernheiten. In mehr als 300 Kommunen wurden „Einheitsbäumchen“ gepflanzt, um das bundesrepublikanische Lebensgefühl zu fördern – häufig mit großem Tamtam.
Das musste auch die Lutherstadt Eisleben in Sachsen-Anhalt über sich ergehen lassen. Im Jahr 2014 rückten Bundes- und Landtagsabgeordnete an, um ein „wachsendes Denkmal für die Wiedervereinigung“ einzuweihen: eine Eiche, eine Buche und eine Linde. Nötig hatte die Gemeinde das nicht, in Anbetracht einer langen Geschichte und eines riesigen Kulturschatzes. In Eisleben entstand das erste Theater nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Geburts- und Sterbehaus von Martin Luther stehen hier sogar zwei Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Region vom Bergbau geprägt, im Anschluss gelang der Wandel hin zu einem Zentrum der DDR-Mikroelektronik. Aus der traditionsreichen Bergschule wurde eine weithin anerkannte Ingenieurschule für Elektrotechnik und Maschinenbau. Im Jahr 1993 war Schluss damit: trotz hervorragender Leistungen und guter Ausstattung wurde die Ausbildungsstätte liquidiert. Das traditionsreiche Theater kämpft seit Jahren gegen die Insolvenz an. Die Industrieproduktion wurde abgewickelt, die Bevölkerungszahl sank seit 1989 um 36 Prozent. Aus der einstigen Kreisstadt wurde eine von vielen „strukturschwachen“ Gemeinden im Kreis Mansfeld-Südharz.
Der Landkreis landet seit Jahren auf den hintersten Plätzen, wenn die Wirtschaftskraft oder Entwicklungsperspektiven deutscher Kommunen aufgelistet werden. Im letzten „Zukunftsatlas“ des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos erreichte Mansfeld-Südharz den 400. Platz von 400. Auch beim „Wegweiser Kommune“ bildet der Kreis das Schlusslicht: Bis zum Jahr 2040 soll er mehr als 20 Prozent seiner Einwohner verlieren. Interesse an der Ursachenforschung war im medialen Grundrauschen nicht zu erkennen. Kein Wunder, schließlich ist die Region nur eines von vielen Beispielen für eine Politik, mit der die DDR ausgeschlachtet und die Niederlage des Sozialismus zementiert werden sollte. Dazu gehörte eine revanchistische Struktur- und Regionalpolitik. „Die Zerschlagung von Einrichtungen und Infrastrukturen wie den Polikliniken und Kreiskulturhäusern (…) lassen sich nicht allein aus pragmatischen Politiküberlegungen und ökonomischen Interessen erklären. Sie folgten offensichtlich auch Impulsen der Rache und Bestrafung“, schrieb der Sozialwissenschaftler Andrej Holm in seinem Buch „Objekt der Rendite“.
Zugleich eröffnete sich nach 1990 ein Experimentierfeld für die neoliberale Neuordnung ganzer Landstriche. Durch die gezielte Verarmung der Kommunen wurde die öffentliche Daseinsvorsorge auf ein extrem niedriges Niveau gedrückt. Der Landkreis Mansfeld-Südharz erwartet im Haushaltsjahr 2024 ein Minus von rund 23 Millionen Euro. Dennoch ist der Landrat André Schröder (CDU) laut eigener Pressemitteilung davon überzeugt, „seine Hausaufgaben gemacht“ zu haben. Schließlich liege der „Personalbestand je Einwohner unter dem Landesdurchschnitt“. Freiwillige Aufgaben, also öffentliche Leistungen über den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtbetrieb hinaus, machen nur noch 2 Prozent des Kreishaushaltes aus. Demnächst würden die Büros der Kreisangestellten zusammengelegt, um Kosten für Räume zu sparen. Dann sei der Landkreis „auskonsolidiert“, so Schröder – es gibt also schlicht nichts mehr zu kürzen. Die drei Kliniken im Mansfeld-Südharz-Kreis sind längst privatisiert und im Besitz des Helios-Konzerns. Damit erfüllt der Landkreis alle Punkte auf der Checkliste neoliberaler Traumvorstellungen: eine „schlanke“ Verwaltung, weitestgehender Bürokratieabbau und so wenig öffentliche Leistungen wie möglich. Allein, die dadurch versprochenen blühenden Landschaften stellen sich nicht ein.
Was also tun? Während die Bertelsmann-Stiftung Förderprogramme zur Schaffung von altengerechten Strukturen für die Restbevölkerung empfiehlt, setzte die Journalistin Anne Lena Mösken im „Deutschlandfunk“ auf eine „Offensive“, um „junge Menschen zurück in die Regionen zu bringen“. Um das zu erreichen, fordert sie kostenfreie Kitas, gute Schulen, einen guten öffentlichen Nahverkehr und attraktive Kultureinrichtungen. Spätestens hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Denn all diese Errungenschaften gab es schon einmal. Dass es sie heute nicht mehr gibt, ist kein Kollateralschaden, sondern das gewünschte Ergebnis eines mehr als 30 Jahre lang vorangetriebenen Abrissprojekts. Ohne diese Erkenntnis werden aus gut klingenden Forderungen Floskeln, die dann bei der Einweihung des nächsten „Einheitsbäumchens“ ins Mikrofon gesäuselt werden können.