Zum (west-)europäischen und deutschen Niedergang

Ab- und Aufsteiger

Das Ausscheiden der deutschen Nationalelf bei der Fußball-Weltmeisterschaft hat hierzulande einen ähnlich großen Katzenjammer ausgelöst wie ihr Sieg im Jahre 1954 nationalmental für die Gewissheit stand, auch politisch und ökonomisch wieder im Spiel zu sein. Der damalige Rückenwind mag sogar geholfen haben, zwei Jahre später wieder zu den bis dahin kollektiv verpönten Waffen zu greifen.

Inzwischen haben sich die Trends nicht nur sportlich völlig verändert. Allerdings werden auch viel ernstere Signale eines kontinuierlichen Abstiegs als die einer WM-Pleite hierzulande in den Massenmedien kaum wahrgenommen. Dort herrscht weiter Protzerei, angefeuert durch eine um den Globus düsende Weltbelehrungsministerin.
Immerhin hat die deutsche „FAZ“ am 30. November wenigstens auf der dritten Seite hinten im Wirtschaftsteil ganz unten rechts in einer kleinen Meldung zur Kenntnis gegeben: „Reallöhne sinken“. Die Nominallöhne, heißt es da, seien im dritten Quartal um 2,3 Prozent gestiegen, die Preise aber um 8,4 Prozent – macht ein Minus von fast 6 Prozent. Das ist der schnellste Reallohnverlust seit Bestehen dieser Republik.

Noch klarer hat es der in London erscheinende „Economist“ gleich auf seiner Titelseite vom 26. November auf den Punkt gebracht: „Frozen out – How the world is leaving Europe behind“ – übersetzbar bei Verlust der englischen Doppeldeutigkeit etwa mit: „Herausgedrängt – wie die Welt Europa hinter sich lässt“. Das dazugehörige Bild zeigt ein Europa ohne seinen russischen Teil, überzogen mit einem dicken Eispanzer. Im Innenteil des „Economist“ wird der rasante Niedergang Westeuropas und seiner selbsternannten Führungsmacht Deutschland mit einer Fülle von harten Fakten und überzeugenden Grafiken nachgezeichnet. Die Zahlen stehen im deutlichen Kontrast zu den jüngsten Jubelmeldungen des vom Kinderbuchautor zum Minister aufgestiegenen deutschen Chef-Wirtschaftslenkers, der sich zurzeit selbst in Begeisterung über die von ihm zu horrenden Preisen gefüllten Gasspeicher hineinphantasiert. Dieser Erfolg sei, so die Londoner Ökonomen, zu unvertretbar hohen Kosten erkauft, verstärke die Risse innerhalb der EU und ihre Entfremdung gegenüber dem Rest der Welt, beschleunige die Inflation und programmiere Haushaltsprobleme. Ergebnis dieses Crash-Kurses: „Europas Krise hat erst begonnen.“

Statt laut tönend immer schneller dem dritten – und dann wohl letzten – großen Krieg gegen Russland innerhalb von nur 120 Jahren entgegenzuschliddern, ist ein Ausstieg aus diesem Abstieg, etwas Vernunft vorausgesetzt, ziemlich simpel: Ende des Wirtschaftskrieges gegen Russland, Nutzung von russischem Gas und Öl – günstig und gegenüber Fracking-Gas auch ökologisch vertretbar – und Intensivierung statt Infragestellung der Handelsbeziehung zur aufsteigenden Wirtschaftsmacht China. Stattdessen kettet man sich noch immer an die absteigende Macht in Washington.

Die Risse und Irrationalitäten werden systembedingt zunehmen. Folglich wird – Vermeidung des nuklearen Infernos vorausgesetzt – das eintreten, was Professor Enfu Cheng von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in einem 2021 von den „Marxistischen Blättern“ veröffentlichten Interview zu „Fünfhundert Jahre Sozialismus aus chinesischer Sicht“ so formulierte: „Solange die kapitalistischen Länder sich auf das Privateigentum stützen, wird ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht endlos der von sozialistischen Ländern voraus sein.“

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Ab- und Aufsteiger", UZ vom 9. Dezember 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit