Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf. Rezension des Buches „Imperium EU – ArbeitsUnrecht“

Zerstörung des Normalen

Um es klarzustellen: Der soeben in der Kleinen Bibliothek des PapyRossa-Verlages erschienene Band von Werner Rügemer zum „Imperium EU“ ist keine ökonomische Analyse der Politik und Rolle der EU, wohl aber eine umfassende Auflistung von Fakten, Persönlichkeiten und institutionellen Verflechtungen dieses Gebildes. Eindrucksvoll schildert Rügemer die Rolle der angeblichen Gründungsväter der EU und ihrer Vorläufer Monnet, Schuman und Hallstein und deren vielfältige Verflechtung mit dem US-amerikanischen Kapital. In diesem Punkt gleicht der Band einem „Who is who“ der EU-Politik und der EU-Geschichte, die heute auch in den Gewerkschaften meist vergessen ist.

Damit räumt Rügemer auch mit dem Vorurteil einer überwiegend eigenständigen Rolle der EU gegenüber der US-Administration auf. Eindrucksvoll schildert der Autor, dass die Gründungsväter der EU nicht nur über vielfältige Bezüge zum US-Kapital verfügten, sondern sich vor allem in ihren strategischen Vorstellungen an US-amerikanischen Vorbildern orientierten. Das Buch ist in weiten Teilen eine Desillusionierung der ja durch den Brexit bisweilen neu legitimierten EU.

Ob dies alles aber die teilweise drastische Sprache des Autors rechtfertigt, mag dahinstehen. So, wenn er von „Fake-Produktion auf höchstem professionellen Niveau“ (71) oder „vom hinterfotzigen … brutalen Klassenkampf von oben“ (198) spricht. Solche Superlative dienen nicht unbedingt der Erhellung von Zusammenhängen. Das Lektorat des Buches wäre – nebenbei – auch an anderer Stelle gefordert gewesen, da sich ganze Textpassagen wortwörtlich wiederholen.

Doch relevanter ist der vom Autor schon früher kreierte Begriff eines „ArbeitsUnrechts“. Was ist das? Dieser Begriff ist merkwürdig unklar und wenig erhellend. Vor allem da, wo er durch Verdoppelung noch weiter verdunkelt wird, so in der Behauptung eines „verrechtlichten und außerrechtlichen (!) ArbeitsUnrechts“ (132) und in der angeblichen „Beförderung“ des ArbeitsUnrechts durch die EU (31) bei gleichzeitiger „Tabuisierung“ (48). Der Autor jongliert mit dem Begriff so, dass man als Leser am Ende ratlos ist, was denn nun gemeint sei.

Recht und Unrecht

Es fällt zunächst auf, dass von „Arbeitsrecht“ beim Autor nie die Rede ist sondern nur von „Arbeitsrechten“ und daneben eben vom „ArbeitsUnrecht“. Doch wenn dieser Begriff überhaupt einen Sinn haben soll, dann doch nur in der Negation: ArbeitsUnrecht soll ja wohl das Gegenteil sein zum „Arbeitsrecht“. Da dieses Recht von vielen als „ungerecht“ empfunden wird, wird das darin „Ungerechte“ einfach zum „ArbeitsUnrecht“. Dabei gerät vieles durcheinander: Recht und Rechtskritik. Rechtskritik und Rechtsprechungskritik, Recht und Rechtswirklichkeit. Diese Bereiche und Begriffe müssen strikt auseinandergehalten werden. Leider geschieht dies in dem Buch nicht. Zustände, die zu Recht kritisiert werden, sind oftmals solche, die auf mangelnder Rechtskontrolle beruhen. Doch das Recht ist nicht für sein eigenes Vollzugsdefizit verantwortlich. Wenn die angeblich „vollziehenden Organe“ seine Einhaltung nicht kontrollieren, ist die Politik gefragt. Dadurch wird bestehendes Recht noch lange nicht zu „Unrecht“.

Tatsächlich hat diese Beziehung von Recht und Rechtswirklichkeit auch größte politische Bedeutung. So kann man – wie viele historische Beispiele und Beispiele aus anderen Ländern, etwa China, zeigen – gegen den mangelnden Vollzug von Gesetzen hervorragend mobilisieren, nicht aber gegen ein „Recht“ oder einen Rechtszustand, der pauschal als „Unrecht“ denunziert wird. Im Gegenteil: Solch plakative Kritik demotiviert und demobilisiert eher. Es gilt vielmehr, im Interesse der politischen Praxis Licht in das Dunkel der dialektischen Beziehungen von Recht und Rechtsprechung, von Gesetz und Recht zu bringen.

Dabei ist als erstes darauf hinzuweisen, dass das Arbeitsrecht immer ein Rechtsgebiet war, in dem sich die Interessen von Kapital und Arbeit auf unterschiedliche Weise widerspiegeln und dass im Arbeitsrecht auch Positionen der Arbeiterschaft enthalten sind. Mal weniger, mal mehr.

Zum anderen muss man akzeptieren, dass die Destruktion von Recht durch „Uminterpretation“ klar formulierter Gesetze eine spezifische Form der Klassenjustiz ist, der man eben auch forensisch, das heißt, durch alternative Rechtsinterpretation, begegnen muss und begegnen kann. Das ist Teil des „Kampfes ums Recht“.

Aber darauf geht das Buch nicht näher ein. Arbeitsunrecht ist, was im weitesten Sinne als „ungerecht“ empfunden wird. Damit aber verankert der Autor seinen Maßstab letztlich in einem nicht näher definierten Naturrecht, das über nationalen Gesetzen und internationalen Verträgen wie auch nationaler und übernationaler Rechtsprechung steht. Ein solches Recht aber ist letztlich nicht greifbar und nicht geeignet, den politisch Handelnden eine Orientierung zu geben.

Widersprüche als Triebkräfte

Um es klar zu sagen: Orientierung geben die Unterschiede. Auch kleinste Unterschiede und nicht die ganze Breitseite einer Fundamentalkritik nach dem Motto „Alles ist nichts“.

Zwei Beispiele:

Der Autor kritisiert an mehreren Stellen deutlich die neoliberale Politik in Belgien und Dänemark. Es kommt ihm merkwürdigerweise gar nicht in den Sinn, das reine Faktum zu erwähnen, dass in Belgien der „Generalstreik“, ja sogar der „politische Streik“ als „erlaubt“ gilt, während wenige Kilometer von der belgischen Grenze entfernt in Deutschland bereits die Debatte über diese Themen total tabuiert ist. Diesen Unterschied kann man nicht mit dem Hinweis auf die Rolle der EU-Institutionen oder des US-amerikanischen Kapitals erklären. Dieser Unterschied ist allerdings wichtig, um etwa in der Debatte in Deutschland voranzukommen. So unter anderem auch in der Debatte zum sogenannten Beamtenstreikverbot, das in Belgien wie auch in anderen Ländern völlig undenkbar wäre, auf dem aber die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland entgegen dem Grundgesetz nach wie vor beharrt. Ähnlich verhält es sich mit den Angaben zu Dänemark und Skandinavien auf den Seiten 64 und 231 des Buches. Es wird die Unterordnung Dänemarks als NATO-Mitglied unterstrichen, aber auf entscheidende Fakten sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart nicht hingewiesen: So waren es dänische Politiker nahezu aller Richtungen, die sich von Anfang an gegen die Berufsverbote in Westdeutschland wehrten und engagierten. Es war das dänische Volk, das zum passiven Widerstand gegen die Nazi-Okkupanten sich zusammenschloss, als die Besatzungsmacht Mitglieder der dänischen kommunistischen Partei zu „Bürgern zweiter Klasse“ erklären wollte. Auch diese „Unterschiede“ sind es, die uns auf die Spur von Aktivitäten bringen und entscheidende Motivation und Begründung für politisches Engagement darstellen können. Nicht die Totalkritik, die uns „beweist“, dass der „Kapitalismus schlecht“ ist, sondern die Unterschiede, die deutlich machen, dass und welche Rechtspositionen möglich und denkbar und durchsetzbar sind, bringen uns weiter. Differenzierungen spiegeln Veränderungen wider. Diese wiederum zeigen veränderte Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital auf und genau diese sind für Ansätze einer politischen Strategie so wichtig.

Klare Sprache des Rechts

Dabei muss man immer wissen, was man eigentlich kritisieren will, und dass man bei seiner Kritik einigermaßen konsequent bleibt. So ist die Kritik am § 611a BGB, wie sie der Autor übt, nicht berechtigt. Dort wird der Arbeitsvertrag so definiert, wie er ökonomisch definiert werden muss, nämlich als abhängige fremdbestimmte Arbeit. Damit spiegelt die Vorschrift das ökonomische Grundverhältnis von Lohnarbeit und Kapital richtig wider. Der Autor aber kritisiert, dass in dieser Definition des Arbeitsvertrages der Begriff „Sozialpartnerschaft“ fehle. Ja. Er fehlt. Zu Recht. Abhängige Arbeit ist abhängige Arbeit und abhängige Arbeit wird durch einen Begriff wie „Sozialpartnerschaft“ nur vernebelt statt verdeutlicht. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik des Autors daran, dass im EU-Vertrag elementare Gewerkschaftsrechte vom Zugriff der EU ausgenommen sind, so zum Beispiel das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit. Ja: Dies geschah vor allem auf Wunsch der Gewerkschaften, die keine EU-rechtliche Verwässerung ihrer nationalstaatlich erreichten Standards erreichen wollten. Was der Autor hier letztlich verlangt, ist eine zusätzliche EU-Kompetenz, die er angesichts seiner Analyse der EU aber gerade ablehnen sollte.

Wesentliche und wichtige Unterschiede und Widersprüche gibt es aber auch innerhalb des Systems EU, so etwa beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Dieses Gesetz war zurückzuführen auf Richtlinien der Europäischen Union. Es stellte einen bedeutenden Fortschritt im „Gleichbehandlungsrecht“ der Bundesrepublik Deutschland dar. Dieser Fortschritt war von deutschen Gewerkschaften nicht „erkämpft“ worden, sondern auf das ganz andere Kräfteverhältnis in Großbritannien, Frankreich und Italien zurückzuführen gewesen. Über das EU-Recht wurde es mit zeitlicher Verzögerung auf Deutschland übertragen. Das war faktisch und rechtlich ein erheblicher Fortschritt. Ähnliches gilt für das Thema Whistleblowing. Natürlich ist es richtig, dass beim Whistleblowing nach wie vor erhebliche Lücken bestehen. Da hat der Autor Recht. Entscheidend aber ist, dass die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes auch zahlreiche Urteile in Deutschland zur Folge gehabt hat, mit denen die alten Strukturen vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis“ und der Unterordnung des einzelnen Arbeitnehmers unter die Interessen des Arbeitgebers erfolgreich bekämpft werden konnten.

Destruktion des Arbeitsrechts

Doch es geht bei den „Unterschieden“ nicht nur um die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, sondern insbesondere auch um die Unterschiede in der Rechtsentwicklung eines Landes selbst. Der Rezensent hat dies erst jüngst in seinem Buch über den „Umgang mit dem Arbeitsrecht“ deutlich gemacht. Er hat dabei aufzuzeigen versucht, dass sich die jetzige Situation des Arbeitsrechts (ausgerechnet mit Ausnahme einiger auf die EU zurückführender Bestimmungen) grundlegend von der Rechtssituation Ende der 1980er Jahre unterscheidet. In den letzten 30 Jahren ist eine Destruktion des Normalarbeitsverhältnisses vollzogen worden, die auch eine Destruktion des Arbeitsrechts insgesamt war. Hier kann und muss also der jetzige Zustand des Arbeitsrechts mit dem Zustand vor 30 Jahren verglichen werden. Diese Destruktion ist so nachhaltig, dass sich viele Akteure längst daran gewöhnt haben und zum Beispiel die Abschaffung der Leiharbeit als „Illusion“ oder als „zu langfristige Forderung“ erscheint. Dass sie dies zu keinem Zeitpunkt war, ergibt sich schon daraus, dass Ende der 1980er Jahre die Leiharbeit gar keine Bedeutung hatte und insbesondere die Werkverträge noch nicht erfunden waren. Heute kennzeichnet diese Art der Beschäftigung die großen Industrien und keineswegs nur die Fleisch­industrie. Insbesondere die Automobilindustrie Deutschlands ist davon betroffen. Der Autor erwähnt sie allerdings nicht. Weit über die Hälfte des Kerns der Industriearbeiterschaft arbeitet unter dem Regime der Werkverträge und zwar mit aktiver Duldung von Betriebsräten und Gewerkschaften. Man könnte diese Entwicklung als „Arbeitsunrecht“ bezeichnen, wenn klar wäre, dass damit die systematische Destruktion eines ganzen Rechtsgebietes gemeint ist. Doch so präzise definiert der Autor seinen Begriff nicht.

Gerne hätte man als Leser erfahren, welche Zusammenhänge und Beziehungen nun zwischen der EU und dem sogenannten „ArbeitsUnrecht“ bestehen. Richtigerweise wird detailliert aufgezeigt, dass das System der sogenannten Flexicurity über die EU seit Anfang der 1990er in den Mitgliedstaaten verbreitet wurde. Da ist dem Autor beizupflichten. War dafür aber die EU verantwortlich? Oder ist dies nicht vielmehr genau jene „Wende“, die 1990 zur Destruktion des Arbeitsrechts in den letzten 30 Jahren führte? Jene Kehrtwende, die 1990 mit einer grundlegenden Änderung des internationalen Kräfteverhältnisses einherging und damit der Sozial- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in der EU völlig neue Aufgaben zuwies?

Um das Verhältnis zwischen Recht und Arbeit zu analysieren, bedarf es nach wie vor genauerer Untersuchungen. Ein Band über das „Imperium EU“ vermag dies nicht zu leisten. Der Autor hat sich hier etwas zu viel vorgenommen. Das mindert aber keineswegs sein Verdienst, die Strukturen der EU eindrucksvoll auch und gerade für Gewerkschafter geschildert zu haben.

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"Zerstörung des Normalen", UZ vom 24. Dezember 2020



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