Die folgende Abhandlung könnte den Stoff für das Drehbuch eines Kriminalfilms liefern. Dafür wurde sie aber nicht aufgeschrieben. Sie dient der Wahrheitsfindung in Sachen Deindustrialisierung.
Der älteste deutsche Industriebetrieb, die Kunstgießerei Lauchhammer in Brandenburg, sollte im kommenden Jahr seinen 300. Geburtstag feiern. Im Oktober 2024 aber musste der Betrieb Insolvenz anmelden – nachdem er in den vergangenen 30 Jahren bereits zu einem Kleinbetrieb mutiert war. Die meisten Medien nahmen von der Insolvenzanzeige keine Notiz – und wenn doch, dann beeilten sie sich, das nahende Ende des Traditionsbetriebs in eine Reihe mit „Insolvenzen all überall“ zu stellen und von der kränkelnden deutschen Wirtschaft zu schwadronieren. Der bestellte Insolvenzverwalter aus Dresden bläst in das gleiche Horn: zu wenig Aufträge, akute Finanznot trotz sehr kulanter Haltung der Hausbank et cetera. Damit kreiert er den „Überbau“, der unseren Überprüfungen nicht standhält, der aber zur Rechtfertigung harter Maßnahmen herangezogen wird.
Die Deindustrialisierung Lauchhammers geht weit über die Gießerei hinaus und ist von langer Hand geplant. Die letzten Sargnägel sind angesichts der Geschichte und Bedeutung des Standorts von enormer Symbolik. Hier geht es um weit mehr als die grausame Vernichtung der letzten Arbeitsplätze in der produzierenden Industrie. Das Buch „Ostdeutsche Industrie“ soll endgültig zugeschlagen werden.
Der erste echte Hochofen
Die Geschichte des Industriestandorts Lauchhammer beginnt 1725. In dem Jahr gründet Freifrau von Löwendahl das Eisenwerk Lauchhammer, das später in Kunst- und Glockengießerei umbenannt wurde. Bei den Bauarbeiten für eine auf ihrem Grundbesitz geplanten Sägemühle wurden umfangreiche Raseneisenerz-Flöze entdeckt. Raseneisenerz ist nicht sehr hochwertig, kann aber leicht gegraben werden, weil es sehr hoch liegt. So entschloss sich Freifrau von Löwendahl, ein Eisenwerk zu errichten.
Noch im gleichen Jahr wurde der erste Hochofen angeblasen. Dabei handelte es sich nicht um eine kleine Gießpfanne, sondern um einen echten Hochofen. Dies fand wohlgemerkt mehr als 100 Jahre vor der industriellen Revolution statt und wird bis heute von Historikern als erstaunlich bewertet. Hergestellt wurden Töpfe, Kessel, Hämmer, Herdplatten, Wagenreifen, Achsen, Pflugscharen, Badewannen, Bau- und Maschinenteile. Schon bald konnte das Werk einen Teil dieser Produkte auch emaillieren.
Erst 1781 wurden die ersten Versuche im Eisenkunstguss unternommen. 1784 erfolgte der erste erfolgreiche Nachguss einer antiken Statue. Die Kunstgießerei war in der Folgezeit auf zahlreichen Ausstellungen weltweit vertreten und errang viele Preise. Die Goldmedaille auf der damals wohl bedeutendsten Ausstellung ihrer Art in Europa, der „Weltausstellung“ in Paris im Jahre 1855, wird als endgültiger Durchbruch in die Weltspitze der Gusstechnik betrachtet. Sicher als Folge dieser Entwicklung kam 1864 der Auftrag, eine gusseiserne Säulenhalle für den Gezira-Palast auf der gleichnamigen Nilinsel in Kairo zu bauen. Anlass war die Eröffnung des Suez-Kanals im Jahre 1869. Die 1867 fertiggestellte Halle, mit 300 Metern Länge und 400 Tonnen Gewicht die größte ihrer Art auf der Welt, steht noch heute. Sie dient als Vorbau eines großen Hotels. Zur gleichen Zeit wurde in siebenjähriger Arbeit das Luther-Denkmal für die Stadt Worms gegossen, eines der weltweit größten Reformationsdenkmäler.
Schinkel zieht Lauchhammer vor
79 Jahre nach Gründung des Eisenwerks Lauchhammer wurde 1804 die königliche Eisengießerei in Berlin gegründet. Ab 1810 befasste sich der Architekt und Künstler Karl Friedrich Schinkel mit dem Design gegossener Möbel. In der Regel zog er die Gießerei in Lauchhammer vor, wo die filigranen Stühle, Bänke und Tische aus Gusseisen bis heute hergestellt werden. Sie wurden viel später durch die Möblierung im Palast der Republik der DDR weltweit berühmt. Zur gleichen Zeit wurde die erste Glocke in Lauchhammer gegossen, eine Replika von ihr hängt bis heute am Verwaltungsgebäude des Betriebs. Wir gehen davon aus, dass in Lauchhammer mindestens 2.000 Glocken gegossen wurden.
Der Betrieb des großen Hochofens wurde 1880 eingestellt. Erst nach der Überführung in Volkseigentum wurde wieder industriell gegossen – trotzdem blieb der Kunstguss immer die vorrangige Form der Produktion.
Viel mehr als Kunstguss
Bei aller notwendigen Konzentration auf die Kunstgießerei in diesem Beitrag darf die industrielle Entwicklung Lauchhammers in anderen Bereichen nicht vergessen werden. Wie im Kunstguss erreichte der Standort in der Stromerzeugung, der Produktion von Briketts und nach Gründung der DDR in der Kokerei eine Spitzenstellung in Deutschland und zum Teil weltweit. Hier einige Beispiele:
- Schon sehr früh konnte in Lauchhammer Kohle zur Stromerzeugung genutzt werden. Bereits 1911 wurde Hochspannungselektrizität über die erste 11.000-Volt-Leitung Deutschlands transportiert. Sie diente der Versorgung der Stahl- und Walzwerke in Gröditz und Riesa. Die mit 300 Masten versehene Leitung war der Vorläufer der europäischen Hochspannungsleitungen.
- Nach der Industrialisierung des Tagebaus entwickelte sich der Standort zum führenden Hersteller von Tagebaugroßgeräten – Förderbrücken zum Beispiel wurden hier erfunden. Die Takraf GmbH (Tagebau-Ausrüstungen, Kräne und Förderanlagen) ist der letzte existierende Rest des mächtigen „Baggerwerks“. Dort wurde auch Eisen industriell gegossen.
- Nach der Gründung der DDR verbot die Regierung Adenauer den Export von Steinkohle als „strategischer Rohstoff“ aus der BRD in den Osten, wohl wissend, dass die DDR damit so gut wie keine Stahlproduktion haben würde.
- Es war wiederum in Lauchhammer, wo 1951 die Weltneuheit „Koks aus Braunkohle“ erfunden wurde. In nur einem Jahr errichteten etwa 2.000 Arbeiter die erste Braunkohlen-Großkokerei der Welt. Sie verkokte täglich 7.100 Tonnen Briketts, gewann daraus 3.100 Tonnen Koks. In den 39 Jahren Produktion gab die Kokerei nicht nur 2.000 Menschen stabile Arbeitsplätze, sie sicherte die Existenz der Metallindustrie des Landes.
Eine einzige Umweltkatastrophe?
Heute wird viel von CO2-Fußabdrücken gesprochen. Der DDR wird unterstellt, sie sei eine einzige Umweltkatastrophe gewesen. Wir wollen hier zur Kokerei in der DDR und der heutigen BRD einige Fakten aufzählen. Jede und jeder kann sich damit ein eigenes Urteil bilden.
Zum Beispiel die staatliche Großkokerei Lauchhammer als Teil des Lauchhammer-Werks in der DDR:
- Transportweg der Kohle in Lauchhammer: Zwischen 1 und 10 Kilometern, je nachdem, aus welcher Brikettfabrik der Rohstoff kam.
- Umweltverschmutzung beziehungsweise Umweltschutz: Auf dem Gelände der Kokerei wurden die ersten Bio-Klärtürme für Kokerei-Abwässer der Welt gebaut. Sie wurden weltweit als hocheffizient beurteilt und stehen noch heute, haben aber nur noch eine Bedeutung als Denkmal.
- Transportweg des Produkts Koks zu den Eisen- und Stahlwerken: Das gesamte Produkt blieb in der DDR, ein großer Teil davon wurde in Lauchhammer verarbeitet.
Zum Beispiel die private Kokerei Prosper in Bottrop im Besitz des weltweit größten Stahlerzeugers ArcelorMittal:
- Transportweg der Kohle zur Kokerei: Ein Großteil wird aus Australien per Schiff und Zug importiert, die Zeche auf dem eigenen Gelände steht still.
- Umweltverschmutzung beziehungsweise Umweltschutz: Für bis zu 20.000 Anwohner hat die Stadt Bottrop ein Verzehrverbot der Produkte aus ihren eigenen Gärten erlassen, so extrem ist die Verschmutzung.
- Transportweg des Produkts Koks zu Stahlwerken: Nicht kontrollierbar, Indien ist der Abnehmer mit der größten Distanz, auch Kunden in England werden beliefert.
Damit sind wir wieder bei der Deindustrialisierung: Die Großkokerei arbeitete mit voller Kraft. 21 Ofeneinheiten waren 24 Stunden am Tag im Einsatz. Am 30. Oktober 1991 wurde die Kokerei komplett und bei voller Produktionsleistung stillgelegt. „Aus wirtschaftlicher und ökologischer Sicht hat die Braunkohle-Verkokung keine Perspektive mehr“, sagten diejenigen, die Steinkohle aus Australien und Kolumbien für ein paar Prozent Extraprofit heranschaffen.
Der Kreis schließt sich beim ältesten Betrieb, der Kunstgießerei. Sie war während der Zeit des Volkseigentums Teilbetrieb des VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer. Das war ohne jeden Zweifel ihre beste Zeit. Auftragslage und Arbeitsplätze waren gesichert. Die Ausbildung junger Menschen zu hochqualifizierten Experten im Gussbereich war von 1947 bis 1990 auf dem höchsten Niveau.
Antifaschistische Kunst
Von 1970 an wurden nur wenige Glocken gegossen, die Konzentration galt dem Kunstguss. Standbilder und Denkmäler, die in Lauchhammer gegossen wurden, sind zahlreich und in viele Länder geliefert worden. Einige Beispiele: Die Figurengruppen von Fritz Cremer vor dem KZ Buchenwald und seine „Widerstandskämpfer“ in Auschwitz, das Karl-Heine-Denkmal in Leipzig, das Standbild „Trümmerfrauen“ in Dresden und der aus 104 Teilen bestehende Ernst Thälmann in Berlin, entworfen vom sowjetischen Künstler Lew Kerbel.
1990 war der Anfang vom Ende – in Lauchhammer und in der gesamten Industrie der DDR. Genau da liegt der Beginn der heute in den Medien als neues Phänomen geschilderten Deindustrialisierung. Was in der DDR aufgebaut wurde, war in wenigen Jahren entsorgt. Das war der Übungsplatz für das, was heute in ganz Deutschland passiert. Der einzige Antrieb: Profitgier.
Die Treuhand übernimmt
Die Kunstgießerei wurde privatisiert und von der Treuhand übernommen. Diese verscherbelte das Werk 1993 an die Glockengießerei Rinker aus Sinn in Hessen. Wie viele der neuen Herren investierten die Rinkers buchstäblich nichts in den Betrieb, gleichzeitig schafften sie die gesamte Technik und Technologie, die mit dem Glockenguss zu tun hatte, in ihr Stammwerk. Die oft kritisierte Einstellung der Glockengießerei 2017 war eine durch die Eigentümer erzwungene Maßnahme.
Als die Brüder Engelmann 2018 den Betrieb übernahmen, lag die Produktion am Boden. Es sah schon damals sehr schlecht aus. Die neuen Eigentümer wollten es im Gegensatz zu ihren Vorgängern aber nochmal wissen. Neue Leute wurden eingestellt und es entstand ein ungewöhnlicher Kollektivgeist zwischen Besitzern und Arbeitern. Sie versuchen alles, um zu überleben. Damit stehen sie – bewusst oder unbewusst – im Widerspruch zum großen Kapital. Sie stehen den „Zeitenwendern“ im Weg.
Der subjektive Faktor
Wie und ob es mit der Kunstgießerei in Lauchhammer weitergeht, wird sich in naher Zukunft entscheiden. Die örtlichen Kommunistinnen und Kommunisten und eine zunehmende Anzahl fortschrittlich denkender Menschen wollen dem Wahnsinn, der heute als Normalität zurechtgelogen wird, einen Riegel vorschieben. „Das Kunstguss-Museum ist das schöne Gesicht dieser Stadt“, berichtet Marion Baur, Vorsitzende der Ortsgruppe der DKP. „Das Herz der Stadt schlägt nebenan, in der Gießerei. Reißt man dieses Herz aus, stirbt die Stadt, auch das schöne Gesicht. Das dürfen und das werden wir nicht zulassen.“ Die DKP hat gemeinsam mit Freunden hunderte Unterschriften für den Erhalt der Arbeitsplätze in Lauchhammer gesammelt – und auch eine Bank in der Gießerei herstellen lassen. Sie steht seit November vor dem Mahnmal für Ernst Thälmann im Ort – natürlich gegossen in der Kunstgießerei. Das ist gelebte Solidarität.
Aber ist es möglich, den Betrieb zu retten? Dieser Beitrag hat Zeugnis davon abgelegt, dass der Standort Lauchhammer in seiner langen Geschichte immer wieder Ungewöhnliches hervorgebracht hat. Dafür war auch der „subjektive Faktor“, also der Mensch, verantwortlich. Warum sollte er es in dieser Situation nicht sein? Das „rote Ländchen“, wie Lauchhammer bis heute beziehungsweise heute wieder genannt wird, hat ungewöhnlich entschlossene, widerstandsfähige Menschen hervorgebracht und angezogen. Sie werden die Kunstgießerei nicht kampflos aufgeben.
Walter Weigelt ist hochqualifizierter Chemiker und lebt heute im Ruhestand in Ruhland. Er arbeitete zu DDR-Zeiten als Direktor im Synthese Werk (heute BASF) in Schwarzheide.
Hermann Baur verbrachte seine ersten Arbeitsjahre in der industriellen Gießerei. Er lebt in Lauchhammer und arbeitet heute als Leinenweber.