Aus dem Editorial von Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 109 (März 2017)

1917 – 2017: Zum 100. Jahrestag der russischen Revolution

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„Der hundertste Jahrestag der russischen Doppelrevolution vom Februar und Oktober 1917 wirft die Frage nach deren geschichtlicher Bedeutung auf und danach, inwieweit dieses historische Ereignis von Bedeutung ist für die sozialen und politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Eric Hobsbawm charakterisierte sie als ein für das 20. Jahrhundert „ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war.“ Die genannten Fragen werden im Laufe des Jahres noch vielfach Diskussionsgegenstand der Linken sein, zahlreiche Buchpublikationen und Veranstaltungen sind angekündigt. Wir beginnen in diesem Heft mit Beiträgen zu Ursachen und Verlauf der russischen Revolution und zur Dialektik von Revolution und Gegenrevolution. Es geht dabei zugleich um das Denken und Handeln insbesondere von Lenin, Luxemburg und Gramsci.

In einem Überblicksbeitrag erinnert Frank Deppe an entscheidende Eckdaten der Ereignisse im Russland des Jahres 1917 und diskutiert vor diesem Hintergrund revolutionstheoretische Aspekte, darunter Probleme von Räteherrschaft und Parlamentarismus. Er verweist darauf, dass die Oktoberrevolution den Verlauf des 20. Jahrhunderts geprägt hat und somit grundlegend ist für die Herausbildung der globalen Kräfteverhältnisse am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Aufstieg Chinas, die Entkolonialisierung und heute wieder zur Disposition stehende Elemente von Demokratie und Sozialstaatlichkeit in den entwickelten kapitalistischen Ländern seien somit nur im Licht der Folgen der Oktoberrevolution zu verstehen. Deppe interpretiert Entwicklung und Zusammenbruch des durch die Oktoberrevolution entstandenen Staates im Kontext der globalen Gegenrevolution. Stefan Bollinger betrachtet die Gesamtentwicklung von der Februarrevolution bis zur Wende zur neuen Ökonomischen Politik 1921 und Gründung der UdSSR 1922 als Abfolge mehrerer revolutionärer Schritte. Er hebt insbesondere hervor, dass und wie die Oktoberrevolution aus den sich sukzessive radikalisierenden massenhaften Protestbewegungen gegen das Elend des imperialistischen Krieges und zunehmend auch gegen die ihn tragenden politischen Strukturen in Russland hervorging. Die Bolschewiki konnten zum entscheidenden Organisator der Revolution werden, weil sie es verstanden, diese elementaren Massenforderungen nach Frieden, Brot und Land aufzunehmen und zu aktivem Handeln gegen Regierung, Krieg, kapitalistische Ordnung und für eine Macht der Sowjets zu mobilisieren. Wladislaw Hedeler geht der Geschichte des kurzlebigen russischen Mehrparteiensystems nach, das mit der Februarrevolution begann und dessen Ende mit dem bewaffneten Aufstand im Oktober 1917 eingeläutet wurde. Er gibt einen Überblick über Wirken und Programmatik der verschiedenen linken, liberalen und konservativen Parteien in den schnell wechselnden politischen Konstellationen und erläutert den inzwischen sehr umfangreichen Stand der Quellenedition und -forschung.

André Tosel beschäftigt sich mit den Reaktionen von Antonio Gramsci auf die Oktoberrevolution in den Jahren 1917–1926, also der Zeit vor seiner Einkerkerung, als er aktiv politische Funktionen in der sozialistisch-kommunistischen Bewegung Italiens und der Kommunistischen Internationale wahrnehmen konnte. In einem berühmten Artikel bezeichnete Gramsci die Oktoberrevolution 1917 als „Revolution gegen das (Marx‘sche) Kapital“, womit er auf die revolutionstheoretisch entscheidende Rolle von politischen Konstellationen und Konjunkturen aufmerksam machte. In gewissem Sinne kehrte er damit das oft schematisch interpretierte Verhältnis zwischen ökonomischer ‚Basis‘ und politischem ‚Überbau‘ insofern um, als er auf die bestimmende Rolle der „Überbauten“ bei der Herausbildung subjektiver kollektiver Handlungsmuster hinwies. In den Auseinandersetzungen nach der Oktoberrevolution und dem Scheitern des „deutschen Oktober“ 1923 plädierte er gegen sektiererische Verengungen nach dem Muster „Klasse gegen Klasse“ und für den Kampf um die Einheitsfront aller Subalternen.

Nation und nationale Frage sind für die (marxistische) Linke bis heute strittige Themen. Sie waren es während und nach der Oktoberrevolution, sie spielten in den antikolonialen Bewegungen und Revolutionen eine Schlüsselrolle und hatten diese auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion. Ulla Plener zeichnet in ihrem Beitrag die für die marxistische Debatte zentrale Auseinandersetzung zwischen Rosa Luxemburg und Lenin nach, die diese zwischen 1903 und 1918 führten. „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (Lenin) versus „national-kulturelle Autonomie“ (Luxemburg) sind laut Plener tatsächlich marginale Unterscheidungen, die an der Frage des Rechts auf nationale Abtrennung (Lenin) jedoch zugespitzt wurden. Letztlich machte Lenins Unterscheidung des Nationalismus unterdrückter und unterdrückender Nationen die größere Realitätstauglichkeit der Leninschen Position aus, wie Plener auch an der Rezeption der Debatte zeigt.

Die Ausstrahlungskraft der Oktoberrevolution auf die Anti-Kriegs-Bewegungen in den kriegführenden Ländern war unübersehbar. „Fare come in Russia“ hieß es in Italien; Luxemburg erklärte 1918: „…wo habt ihr das Abc eurer heutigen Revolution gelernt? Von den Russen habt ihr’s geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte.“ Die revolutionäre Arbeiter- und Matrosenbewegung Bremens an der Jahreswende 1918/1919 dient Gerhard Engel als Mikrokosmos der allgemeinen Bewegung. Protagonisten und Strömungen dieses revolutionären Aufbruchs werden von ihm vorgestellt, verbunden mit dem Versuch, die besondere Rolle der Matrosen in der Revolution mit Blick auf ihre Arbeiterherkunft zu ergründen. Engel verweist zugleich auf Illusionen der Bremer Linksradikalen bei ihrem Versuch, die Revolution bis zu einer sozialistischen Revolution voranzutreiben. (…)“

Weitere Beiträge:

Postkapitalismus III: Werner Goldschmid über „Autonome Marxisten“ – Anmerkungen zu Robert Kurz und Karl-Heinz Roth. Jörg Roesler: Aus postkapitalistischer Sicht: Ulbrichts Versuch einer sozialistischen Marktwirtschaft

Weitere Beiträge von Bernd Belina (Wohnungsbauboom und globale Kapitalverhältnisse), Hans Günter Bell (SMK-Theorie), Lothar Peter (Eribons „Rückkehr nach Reims“ und die Arbeiterklasse) und Wolfgang Förster (Überlegungen zu Friedrich Engels’ „Varia über Deutschland“). Dazu Zuschriften zu Z 108, Tagungsberichte und Buchbesprechungen. Z 110 (Juni 2017) wird als Schwerpunktthema Fragen der sozialen Lage und Kämpfe von Frauen behandeln. Das Thema „1917–2017“ wird fortgesetzt.

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"1917 – 2017: Zum 100. Jahrestag der russischen Revolution", UZ vom 10. März 2017



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