Die Freie Universität Brüssel stellte in einer Studie fest, dass der April diesen Jahres in Belgien der „tödlichste April seit dem Zweiten Weltkrieg“ gewesen sei. Die belgische Regierung hat ein Rettungspolster von 50 Milliarden Euro für Unternehmen vorgesehen, einige Gewerkschafter fordern einen „Sozialpakt“ mit der Unternehmerseite, die Partei der Arbeit Belgiens ( PTB-PVDA) hingegen eine Sondersteuer für die Reichsten im Land. UZ sprach mit Alice Bernard, Mitglied des Nationalrats der PTB-PVDA, Mitglied des wallonischen Regionalparlaments und dort Mitglied des Ausschusses für den öffentlichen Dienst.
UZ: In Deutschland wurden vorübergehend strenge Maßnahmen von Seiten der Regierung gegen die Ausbreitung von Covid-19 ergriffen, beim sogenannten Lockdown wurden Geschäfte geschlossen und Ausgangsbeschränkungen verhängt. Die Zahl der Neuinfektionen konnte innerhalb weniger Wochen stark reduziert werden. Wie stellt sich die Situation in Belgien dar? Gibt es zum Beispiel eine Maskenpflicht oder hat sich die Arbeitsweise verändert?
Alice Bernard: Mitte März ergriff die Regierung drastische Eindämmungsmaßnahmen: Nur die wesentlichen Unternehmen konnten weiter operieren, zum Beispiel Gesundheitseinrichtungen, große Lebensmittelgeschäfte, Transport und Reinigungsdienste. Strenge Regeln müssen eingehalten werden: Hände waschen, Maske tragen, Arbeitsplätze desinfizieren, Abstand von 1,5 Metern halten und so weiter. Schulen, alle Non-Food-Läden, Cafés, Restaurants und Theater sind geschlossen. Alle, bei denen dies möglich ist, müssen Telearbeit leisten. Diejenigen, die das nicht können, werden wegen höherer Gewalt vorübergehend arbeitslos. In Belgien gibt es die „wirtschaftliche Arbeitslosigkeit“, etwa vergleichbar mit der deutschen Kurzarbeit.
In Wirklichkeit war meist keine oder nur unzureichende Schutzausrüstung vorhanden. In einem Krankenhaus zum Beispiel hatte nur das Pflegepersonal Masken – eine pro Tag. Das Wartungs- und Reinigungspersonal hatte keinen Schutz. Dank der Bevölkerung und der Mobilisierung tausender freiwilliger Näherinnen und Näher konnten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter schützen. Es dauerte einen Monat, bis die Behörden groß angelegte PCR-Tests für Pflegeheimpersonal organisierten. Erst seit dem 15. Juni haben die Apotheken fünfzehn Millionen Masken verteilt, die im April bestellt worden waren.
Belgien hat eine Bevölkerung von 11,5 Millionen Einwohnern und ein sehr komplexes föderales System. Neun Gesundheitsminister teilen sich die Kompetenzen, aber keiner von ihnen ist verantwortlich. Wie in anderen europäischen Ländern haben die Regierungen seit Jahren Einsparungen im Gesundheitswesen vorgenommen. Infolgedessen gab es keine Lagerbestände an Masken, es gibt nicht genügend Personal in Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Trotz des Engagements und der Entschlossenheit der tausenden von Helden, die das Virus bekämpfen, hatte Belgien auf dem Höhepunkt der Krise eine sehr hohe Sterblichkeitsrate zu verzeichnen. Laut einer Studie der Freien Universität Brüssel war der „April 2020 der tödlichste April seit dem Zweiten Weltkrieg, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl“. Am 18. Mai lag die Sterblichkeitsrate bei 773 Todesfällen pro Million Einwohner.
UZ: Ab dem Zeitpunkt, als die Pandemie in Deutschland ernst genommen wurde, sind kritische Stimmen an den Maßnahmen der Bundesregierung erst einmal verstummt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich eifrig daran beteiligt, die Corona-Gesetzgebung zu legitimieren und die Interessen des Monopolkapitals durchzusetzen, beispielsweise in Form des Kurzarbeitszeitmodells. Auch der 1. Mai wurde frühzeitig ins Internet verlegt, die IG Metall hat einen für die Arbeiterklasse sehr schlechten Tarifabschluss gemacht, es wird versucht, eine Linie durchzusetzen, die da heißt „die Last der ‚Corona-Krise‘ müssen wir alle gemeinsam tragen“ – was ja bedeutet, dass die Arbeiterklasse sie allein trägt. Wie agieren die Gewerkschaften in Belgien?
Alice Bernard: Die Geschäftswelt hat einen enormen Druck auf die Unternehmen ausgeübt, damit sie den Betrieb aufrechterhalten. Als die Regierung eine Liste der „wesentlichen“ Sektoren erstellte, die weiterarbeiten mussten, versuchten die Unternehmer, eine möglichst lange Liste zu erstellen, während die Arbeiter und ihre Gewerkschaftsorganisationen die Liste auf das Nötigste beschränken wollten. Nehmen wir das Beispiel der chemischen Industrie. Einige Aktivitäten in diesem Sektor sind von wesentlicher Bedeutung: Aktivitäten im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelkette, der Abfallbehandlung, den Körperpflegeprodukten, der pharmazeutischen Industrie. Aber den gesamten Sektor als entscheidend zu betrachten, ist absurd! Ist es so wichtig, weiterhin Parfüms, Plastikstühle und Toaster herzustellen?
In Belgien sind die Gewerkschaften auch für die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung zuständig. Sie kümmerten sich daher um die Verwaltungsformalitäten, um das Recht auf vorübergehende Arbeitslosigkeit (dabei erhält man 70 Prozent des Gehalts) zu gewährleisten. Und in einigen Sektoren haben sie die Zahlung eines Zuschlags durch die Arbeitgeber ausgehandelt.
In vielen Orten kämpfen die Gewerkschaften nun um Maßnahmen, die eingehalten werden müssen, wenn der Betrieb wieder aufgenommen wird.
Während des Besuchs der Premierministerin am 16. Mai organisierten die Mitarbeiter des Peterskrankenhauses in Brüssel eine „Hecke der Unehre“. Sie kehrten ihr den Rücken zu. Seitdem gibt es wöchentliche Gewerkschaftsaktionen für die Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen in Pflegeeinrichtungen.
Die gesamte Gesellschaft denkt über die „nächste Welle“ nach. Die Gewerkschaften sind natürlich Teil dieser Überlegungen. Aber wie in der Gesellschaft als Ganzes sind die Gewerkschaften hin- und hergerissen zwischen dem Anliegen, die Unternehmen wiederzubeleben, um Arbeitsplätze zu retten, und dem Wunsch, das System in Frage zu stellen, das diese gesundheitliche Katastrophe verursacht hat. Einige Gewerkschaftsführer sprechen sich für den Abschluss eines von den Arbeitgebern und den Liberalen vorgeschlagenen „Sozialpakts“ aus. Die Debatte hat gerade erst begonnen.
UZ: Welche Maßnahmen fordert die Partei der Arbeit zum Schutz der Arbeiterklasse und des Volkes?
Alice Bernard: Die Epidemie ist eine nicht zu unterschätzende Bedrohung. Natürlich in erster Linie für unsere Gesundheit, aber auch für unsere Kaufkraft. Es kommt nicht in Frage, die Last der Krise auf die Arbeiter abzuwälzen. Es gibt einen Notfallplan der PTB-PVDA mit sieben konkreten Maßnahmen, um die Kaufkraft zu schützen und die großen Vermögen zu verteilen. (Siehe Kasten). Um diese Pläne zu finanzieren, schlägt die PTB-PVDA eine außerordentliche Corona-Steuer auf Vermögen von über 3 Millionen Euro vor. In Zeiten der Krise sind Fragen der Vermögensumverteilung noch dringlicher. Auf der einen Seite sind die Einkommen von hunderttausenden von Familien bedroht, auf der anderen Seite wird von einer Handvoll Multimillionäre massenhaft Geld angehäuft. Mit dieser „Einmal-Steuer“ von 5 Prozent für die wenigen reichsten Familien des Landes können wir mindestens 15 Milliarden freisetzen. Mit diesem Geld wird es möglich sein, das Einkommen aller von der heutigen Krise betroffenen Beschäftigten in unserem Land zu garantieren.
UZ: Mit 130 Milliarden Euro hat die Bundesregierung in 57 Einzelmaßnahmen das größte Konjunkturpaket in der Geschichte der BRD aufgelegt. Die Ausrichtung der Maßnahmen legt die klare Priorität auf die Stützung der Wirtschaft. Der geplante Kinderbonus und Mehrwertsteuersenkungen sind wohl eher in Bezug auf die Bundestagswahl 2021 zu bewerten, die Hauptlast der Krise trägt die Arbeiterklasse durch Lohneinbußen, sei es durch Jobverlust, Kurzarbeit oder andere krisenbedingte Lohnersatzleistungen. Welche Maßnahmen sieht die belgische Regierung vor und wie bewertet ihr sie?
Alice Bernard: Die Regierung hat dem Großkapital viel versprochen. Die Nationalbank hat mehr als 100 Mitarbeitende entsandt, um die „Economic Risk Management Group“ (ERMG) dabei zu unterstützen, das Ausmaß der Folgen für die Wirtschaft und den Finanzsektor abzubilden, Risiken rechtzeitig zu erkennen und Empfehlungen für Unterstützungsmaßnahmen abzugeben. Diese Arbeitsgruppe bringt Vertreter der wichtigsten wirtschaftlichen Interessengruppen, des Finanzsektors, öffentlicher Einrichtungen, der Wissenschaft sowie von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsorganisationen zusammen.
Für Unternehmen ist ein Polster von 50 Milliarden Euro vorgesehen. Die Regierung will sicherstellen, dass Unternehmen, die in unserem Land, in unserer Wirtschaft und in unserer Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen, weiterhin tätig sind. Die Wirtschaft und die Regierung in ihren Diensten wollen den „Corona-Schock“ zur Destabilisierung der Bevölkerung, der Gewerkschaften, der Arbeitnehmerorganisationen und der linken Parteien ausnutzen. Alle Arbeitgeberverbände haben die von ihnen gewünschten konkreten Maßnahmen im Einzelnen dargelegt: Verlängerung der Arbeitswoche (von 38 auf 42 Stunden), Einfrieren von Löhnen, Verschiebung oder gar Abschaffung des Jahresurlaubs. Auch wird an der sozialen Absicherung gerührt und es stehen weitere Privatisierungen an.
Der Chef der FEB (Föderation der Unternehmen in Belgien) träumt schon seit langem von einem Sozialpakt. Ein Traum, der auf die Zeit vor der Covid-19-Krise zurückgeht. Er ist nicht der Einzige. Für den Chef der liberalen Partei „ist es an der Zeit, einen neuen Sozialvertrag abzuschließen“. Auch auf Gewerkschaftsebene fordern einige Leute einen Sozialpakt. Aber woraus würde dieser Pakt bestehen?
Ein Sozialpakt ist eine Vereinbarung zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung zur Regelung von Arbeitsbedingungen, Vergütungsgrundsätzen, sozialen Rechten.
Heute einen Pakt zu unterzeichnen, würde bedeuten, die Interessen der Arbeitnehmer denen der Arbeitgeber und der rechten Parteien zu unterwerfen. Sie tappt in die Falle der Bosse, die sich vor dem steigenden Klassenbewusstsein fürchten. Es ist an der Zeit, ein breites soziales und politisches Kräfteverhältnis herzustellen. Dies ist unsere einzige Garantie für die Arbeitnehmer, nicht für die Krise zu zahlen.
Und dafür müssen wir den sozialen Kampf wiederbeleben. Seit dem 8. Juni sieht die Regierung kein Problem mit der Eröffnung der Geschäfte. Es können auch Gottesdienste und sportliche Aktivitäten für 100 oder 200 Personen stattfinden. Aber es ist nach wie vor verboten, auf die Straße zu gehen, um den Erhalt von Arbeitsplätzen, die Refinanzierung des Pflegesektors, den Kampf für das Klima zu verteidigen oder gegen Rassismus zu protestieren. Auch wenn man den Abstand einhält und eine Maske trägt.
Die Arbeitgeberverbände gehen zum Angriff über. Sie wollen mit Hilfe der Regierungen Schockmaßnahmen einführen, um die Arbeitnehmer für die Krise zahlen zu lassen, wie sie es 2008 getan haben. Das können wir nicht akzeptieren. Und das Coronavirus darf nicht als Entschuldigung dafür benutzt werden, Arbeitern zu verbieten, aktiv zu werden und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.
Das Gespräch führte Melina Deymann