Seit einem Tag wehte über dem Reichstag die rote Fahne des Sieges. In Moskau hatte man gehofft, am diesem 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, der als „Tag der Internationale“ beziehungsweise „Tag der internationalen Arbeitersolidarität“ seit 1918 in der UdSSR Feiertag war, bereits die Einnahme Berlins feiern zu können. Doch dort wurde in den Straßen noch gekämpft. Deutsche Truppen standen zudem immer noch zwischen Wismar und Hamburg, in Schleswig-Holstein, in Teilen Sachsens und Bayerns, im lettischen Kurzeme (Kurland) und in Breslau (Wroclaw). Prag war noch nicht befreit – wie Gebiete Österreichs nördlich und südlich der Donau. Die Niederlage des faschistischen Deutschlands war trotzdem nicht mehr abzuwenden.
Obgleich die Kämpfe an diesem 1. Mai in Berlin weitergingen, fand die geplante Parade der Moskauer Garnison und von Offiziersschülern auf dem Roten Platz trotzdem statt. Über sie ist – anders als über die Siegesparade vom 24. Juni 1945 – heute kaum noch etwas bekannt. In Moskau war es an diesem Tag sonnig und warm, die Stimmung außergewöhnlich. Überall wurde gesungen, zehntausende Einwohner waren auf den Straßen und feierten – so wie wenige Tage später am 9. Mai den Tag des Sieges – mit den Truppen. „Ich habe nie wieder vorher oder nachher so viel Glück erlebt wie damals. Wir haben alle auf diesen Tag gewartet – und er kam …“, erinnerte sich später ein Teilnehmer der Parade. Auf dem Roten Platz begrüßten Militärs und Mitglieder der Regierung und der Führung der KPdSU, unter ihnen Stalin, Kalinin, Malenkow, Woroschilow, die vorbeiziehenden Truppen. Auch in anderen Städten der Sowjetunion wurde an diesem 1. Mai gefeiert.
An diesem Tag trafen sich deutsche Antifaschistinnen und Antifaschisten, oft gerade erst aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern befreit, um zum ersten Mal nach zwölf Jahren faschistischer Diktatur in Freiheit den Kampftag der Arbeiterklasse zu feiern. In Bagow (Potsdam-Mittelmark), in dessen Gutshaus etwa 100 der Befreiten eine Nacht verbrachten, sprachen der Kommunist Martin Schmidt und der Sozialdemokrat Otto Buchwitz. Wie der Historiker Günter Benser berichtete, gedachten sie der Opfer des Faschismus und gelobten, die Einheit der Arbeiterklasse zu schaffen. In einem Keller in Berlin-Lichtenberg fanden sich deutsche Antifaschisten und Sowjetsoldaten zu einer Maifeier zusammen. Auch in den befreiten Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald wurde der 1. Mai feierlich, aber gegen den Willen der US-amerikanischen Militärbehörden, begangen. Benser schrieb: „Nicht unterdrücken ließ sich eine Maidemonstration in Nordhausen, die ehemalige Häftlinge des KZ Dora und antifaschistische Einwohner der Stadt vereinte.“ In anderen Städten der Region, so unter anderem in Erfurt, konnten Antifaschistinnen und Antifaschisten nur illegal feiern. „Mit einem roten Band im Knopfloch demonstrierten die Arbeiter in Eisleben. Halle und Zwickau den Besatzungstruppen, dass der 1. Mai lebendig ist.“ (G. Benser: Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945. Illustrierte historische Hefte, Nr. 19, Berlin 1980) Auch in anderen befreiten Orten in Deutschland mag es damals solche oder ähnliche Aktionen gegeben haben.
Gefeiert wurde dieser 1. Mai in vielen Ländern der Welt, auch in Europa. Hier unter anderem in Großbritannien, in der Schweiz, in befreiten Städten Jugoslawiens, in Schweden, Ungarn, Österreich und in Frankreich. In Schweden streikten zu dieser Zeit und seit Monaten Metall- und Gießereiarbeiter für ihre Rechte. In Budapest wurde auf einer Demonstration unter anderem die Durchführung einer demokratischen Bodenreform gefordert. Im von sowjetischen Truppen bereits am 13. April befreiten Wien wurden Aufmärsche und Kundgebungen in den Bezirken organisiert, oft unter Beteiligung von Kommunisten, Sozialdemokraten und Vertretern der ÖVP. Wenige Tage zuvor, am 27. April, war von Vertretern der drei Gründungsparteien der Zweiten Republik (SPÖ, ÖVP und KPÖ) die Unabhängigkeit des Landes erklärt worden.
Demonstriert wurde an diesem Tag auch in Paris – vom Place de la Bastille zum Place de la Nation. Die CGT hatte dazu aufgerufen, um den Sieg über den Faschismus zu feiern, aber auch um die Arbeiter- und Gewerkschaftstradition der Vorkriegszeit wieder zu beleben. Wie die „Humanité“, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, am 3. Mai 1945 berichtete, zogen an diesem Tag bis zu eine Million Menschen in einem langen Zug durch die Stadt: Mitglieder der KPF, sozialistischer sowie anderer linker Organisationen, Arbeitersportlerinnen und -sportler und viele weitere Antifaschistinnen und Antifaschisten. Es demonstrierten – an der Spitze des Zuges – aus Gefängnissen und Lagern Befreite, oft noch in Häftlingskleidung. Im Zug waren auch Freiwillige, die im Spanischen Krieg auf der Seite der Republik gekämpft hatten. Rote Fahnen, Fahnen der Republik, Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion waren zu sehen. Auf einem Transparent wurde an die glorreiche Revolution von 1789, die Pariser Kommune von 1871 und den Aufstand der Widerstandsbewegung in Paris gegen die faschistischen Besatzer vom August 1944 erinnert. Aber auch Arbeiter- und Frauenrechte wurden eingefordert. So forderten Frauen „Gleiche Arbeit, gleiches Entgelt“.
Einen Tag später berichteten die Nachrichtensender endlich vom Fall Berlins. Es blieben nur noch wenige Tage bis zur endgültigen Kapitulation des faschistischen Deutschlands.