Zum 200. Todestag von George Gordon Byron

Der revolutionäre Lord

Zwischen 1790 und 1830 bildete sich in England die Arbeiterklasse heraus. Damit einher ging die Entstehung eines Klassenbewusstseins; parallel dazu entstanden spezifische Formen politischer und industrieller Organisation. Bis 1832 hatten sich feste und selbstbewusste Institutionen der Arbeiterklasse herausgebildet, darunter Gewerkschaften, Freundschaftsvereine, Bildungs- und religiöse Bewegungen, politische Organisationen und Zeitschriften.

Zu den bedeutsamen sozialen Umbrüchen zählten auch die weitreichenden Einfriedungen in der Landwirtschaft zwischen 1760 und 1820; das Gemeinrecht in den Dörfern ging verloren und die verarmten vertriebenen Landarbeiter wanderten in die Städte. Die kleinbäuerliche Produktionsweise wich den Industrien und führte dazu, dass die Mehrheit der Weber, Strumpfwirker oder Nagelschmiede zu Lohnarbeitern wurde.

Im Kontext der Französischen Revolution und der Verbreitung von Thomas Paines „Rechte des Menschen“ unter den einfachen Schichten entwickelte sich die plebejische „Corresponding Society“ als einzige Kraft, die den konterrevolutionären Kriegen Widerstand leistete. Adel und Fabrikanten verbündeten sich, um jakobinische Bestrebungen des Volkes zu unterdrücken und Lohnforderungen zu vereiteln. Das Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen diente beiden Zwecken.

Eine beispiellose politische Verfolgung setzte ein. Das Gesetz zur Aussetzung des Habeas Corpus von 1794 führte zur Inhaftierung Hunderter ohne Gerichtsverfahren, darunter die Anführer der „London Corresponding Society“, der ersten politischen Organisation der Arbeiterklasse in Britannien. Der „Newspaper Proprietors Registration Act“ ermöglichte nur den Reichen, Zeitungen herauszugeben. Menschen, die sich beispielsweise über den Getreidepreis beschwerten, konnten wegen Verschwörung gegen den Monarchen verurteilt werden.

Die Yeomanry (paramilitärische Freikorps) wurde ausschließlich von Offizieren des Adels und des Bürgertums geführt und diente dazu, bei der Niederschlagung innerer Unruhen eingesetzt zu werden. Das Massaker von Peterloo ging in die Geschichte ein.

Die Künstler reagierten auf die weitreichende Krise der englischen bürgerlichen Gesellschaft und den Beginn der industriellen Revolution mit dem, was später als Romantik bekannt wurde. In England und Schottland betrachteten sich die Dichter dieser Ära als Verfechter der Ideale der Französischen Revolution. Einige von ihnen ließen später von diesen Idealen ab, während andere ihr Leben lang an ihnen festhielten und ihre Kunst für eine humanere Zukunft einsetzten.

Zu diesen revolutionären englischen Dichtern der Romantik zählt George Gordon Byron (1788 – 1824), dessen 200. Todestag am 19. April weltweit begangen wird.

Byron war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr einflussreich auf die revolutionären Kräfte in Europa. Einer der Dekabristen gegen das zaristische Regime, der Dichter Kondrati Rylejew, stieg 1825 mit einem Band von Byrons Gedichten in St. Petersburg aufs Schafott. Friedrich Engels kommentierte in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Shelley, der geniale prophetische Shelley, und Byron mit seiner sinnlichen Glut und seiner bittern Satire der bestehenden Gesellschaft haben ihre meisten Leser unter den Arbeitern.“ Byrons Einfluss in Europa war schon zu seinen Lebenszeiten sowie in den Jahrzehnten nach seinem Tod immens.

Byrons alkoholkranker Vater starb, als George Gordon neun Jahre alt war. Der Junge wurde nach dem Ableben eines Onkels der sechste Lord Byron von Rochdale. Trotz seines Radikalismus war Byron sich seines Titels sehr bewusst mit allem, was dazugehörte. Er bedeutete einen großen sozialen Unterschied zu Shelley, einem bloßen Emporkömmling der nichtadligen „landed gentry“.

Nach Erlangung seiner Volljährigkeit (1809) nahm Byron seinen Sitz im House of Lords ein. Im Juli desselben Jahres brach er zu einer zweijährigen Reise ins Ausland auf, die ihn über Europa bis in die Türkei führte. Über diese Erfahrung schrieb er in den ersten beiden Teilen von „Childe Harolds Pilgerfahrt“ (1812), die ihn über Nacht berühmt machten.

In seiner Jungfernrede im House of Lords im Februar 1812 geißelte Byron die Bemühungen der Regierung, die Maschinenstürmerei rebellischer Weber unter Todesstrafe zu stellen: „Diese Maschinen waren für sie insofern von Vorteil, als sie die Notwendigkeit überflüssig machten, eine Reihe von Arbeitern zu beschäftigen, die in der Folge verhungern mussten. Durch die Einführung einer bestimmten Art von Maschine verrichtete ein einziger Mann die Arbeit von vielen, und die überflüssigen Arbeiter wurden aus der Beschäftigung geworfen. Es ist jedoch anzumerken, dass die auf diese Weise ausgeführte Arbeit von minderer Qualität war, zu Hause nicht vermarktet werden konnte und lediglich im Hinblick auf den Export übereilt wurde. (…) In der Torheit ihres Herzens bildeten sie sich ein, dass der Unterhalt und das Wohlergehen der fleißigen Armen von größerer Bedeutung seien als die Bereicherung einiger weniger Personen durch irgendeine Verbesserung der Maschinen, die die Arbeiter um ihre Beschäftigung brachte.“

Ebenso setzte er sich auch für die Rechte der irischen Katholiken ein. „Kommen die irischen Katholiken in den vollen Genuss des Geschworenengerichts? Nein, und das können sie auch nicht, solange es ihnen nicht gestattet ist, als Sheriffs und Unter-Sheriffs zu dienen. Bei der letzten Gerichtsverhandlung in Enniskillen gab es dafür ein markantes Beispiel. Ein Yeoman wurde wegen Mordes an einem Katholiken namens Macvournagh angeklagt; drei respektable, unwidersprochene Zeugen sagten aus, dass sie sahen, wie der Angeklagte lud, zielte, auf den besagten Macvournagh schoss und ihn tötete.

(…) zur Empörung des Gerichts sprachen die protestantischen Geschworenen den Angeklagten frei. Die Voreingenommenheit war so eklatant, dass Mr. Justice Osborne es für seine Pflicht hielt, den freigesprochenen, aber nicht für unschuldig befundenen Mörder mit einer hohen Kaution zu belegen und ihm so vorübergehend die Lizenz zum Töten von Katholiken zu entziehen.“

In seinem Tagebuch vermerkte Byron im Januar 1814: „Tatsache ist, dass Reichtum Macht und Armut Sklaverei ist, überall auf der Erde, und eine Art von Ordnung ist weder besser noch schlechter für ein Volk als eine andere.“ Später sollte er seine Meinung ändern und sich auch persönlich in den Befreiungskämpfen in Italien und Griechenland engagieren.

Bereits ein Jahr nach seiner Eheschließung mit Annabella Milbanke kam es 1816 zu einer rechtlichen Scheidung. Die Londoner Gesellschaft, die Byron hauptsächlich wegen seiner radikalen politischen Ansichten missbilligte, nutzte Gerüchte über Inzest mit seiner Halbschwester Augusta Leigh aus, um ihn zu verschmähen. Am 25. April 1816 verließ er England auf immer.

Byron ließ sich zunächst in Genf nieder, wo er sich mit Shelley, Mary Godwin Shelley und Marys Stiefschwester, Claire Clairmont (mit der Byron in London eine Affäre begonnen und schließlich ein Kind hatte) traf. Unter ihnen kam es im Juni 1816 zu einem Schreibwettbewerb, der zu Mary Shelleys weltberühmtem Roman „Frankenstein“ führte. Zu dieser Zeit schrieb Byron unter anderem den dritten Gesang von „Childe Harold“.

Im Oktober 1816 erreichte Byron Italien, wo er den größten Teil seines verbleibenden Lebens verbringen sollte. Von 1817 bis 1818 weilte er hauptsächlich in Venedig, wo er luxuriöse Unterkünfte unterhielt. Er reiste auch stets mit einer Schar von Tieren. Shelley notierte beispielsweise nach einem Besuch bei ihm: „Lord B’s Etablissement besteht neben den Dienern aus zehn Pferden, acht riesigen Hunden, drei Affen, fünf Katzen, einem Adler, einer Krähe und einem Falken; und alle diese, außer den Pferden, laufen im Haus herum, (…) soeben habe ich auf der großen Treppe fünf Pfauen, zwei Perlhühner und einen ägyptischen Kranich getroffen.“

Genauso bunt ging es auch in Byrons Liebesleben zu und viele Gerüchte umranken dieses, wie auch seine Beziehungen zu anderen oft widersprüchlich waren. Doch spendete er freigiebig Mittellosen und der revolutionären Sache, darunter mindestens 30.000 „Spanische Dollar“ für den griechischen Befreiungskampf.

1819 traf Byron die Gräfin Teresa Guiccioli, mit der ihn eine längerfristige Beziehung verbinden sollte. Durch deren Brüder und Vater wurde er mit italienischen patriotischen Kreisen bekannt und trat den revolutionären Carbonari bei. Das Scheitern eines geplanten Aufstands gegen die österreichische Herrschaft von 1821 enttäuschte Byron zutiefst und verleitete ihn in einem Brief an seinen Freund Hobhouse vom 26. April 1821 zu der Aussage: „Du weißt sicher inzwischen wie ganz Europa von dem Verrat und der Fahnenflucht der Neapolitaner. (…) Ich kann nichts auf dem Postweg schreiben (…) Die übrigen Italiener verachten sie, wie du es tun wirst, & alle ehrlichen Menschen aller Nationen. – Polen und Irland waren Sparta und Spartakus im Vergleich zu diesen Schurken.“

Aus dieser Zeit mit den Carbonari stammt auch diese Bemerkung aus seinem Tagebuch (1820 – 1821): „Vor zwei oder drei Jahren dachte ich daran, in eines der Amerikas, das englisch- oder spanischsprachige, zu gehen. Aber die Berichte, die infolge meiner Erkundigungen aus England kamen, haben mich entmutigt … es gibt keine Freiheit, selbst für Herren, inmitten von Sklaven; es lässt mein Blut kochen, das zu sehen. Manchmal wünschte ich, ich wäre der Besitzer von Afrika, um auf einmal zu tun, was Wilberforce mit der Zeit tun wird, nämlich – die Sklaverei aus ihren Wüsten zu fegen und den ersten Tanz ihrer Freiheit zu sehen!“

Danach begann er sich zunehmend für die griechische Unabhängigkeitsbewegung einzusetzen und wurde im Mai 1823 Mitglied des Londoner „Greek Committee“. Er verließ Italien und Teresa und verbrachte die letzten Monate seines Lebens in Griechenland, um sich im Kampf gegen die türkische Herrschaft einzubringen. Im April 1824 starb er jedoch in Missolonghi an den Folgen eines Fiebers, bevor er selbst aktiv am Widerstand teilnehmen konnte. Wie auch John Keats wies er jede christliche Vereinnahmung seines Todes ab. Er wurde mit einem Staatstrauerakt in Missolonghi geehrt; seine sterblichen Überreste wurden einbalsamiert nach London überführt. Da der Dekan von Westminister die Bitte ablehnte, Byron wie andere große englische Dichter in der Abtei zu bestatten, beschloss Hobhouse, dass Byron „wie ein Adliger beerdigt werden sollte“, und sie legten ihn in der Familiengruft der Byrons in Hucknall Torkard in Nottinghamshire zur letzten Ruhe.

Heinrich Heine erfuhr erst im Mai 1824 von Byrons Tod. Er schrieb am 25. Juni an seinen Freund Moses Moser: „Der Todesfall Byrons hat mich übrigens sehr bewegt. Es war der einzige Mensch, mit dem ich mich verwandt fühlte, und wir mögen uns wohl in manchen Dingen geglichen haben; scherze nur darüber soviel Du willst. Ich las ihn selten seit einigen Jahren; man geht lieber um mit Menschen, deren Charakter von dem unsrigen verschieden ist. Ich bin aber mit Byron immer behaglich umgegangen wie mit einem völlig gleichen Spießkameraden.“

Nicht nur Heine, sondern auch sein Landsmann Wilhelm Müller, Goethe, Puschkin, Schumann, Berlioz und Tschaikowski und viele, viele andere mehr verstanden den aufrührerischen Geist Byrons und ließen sich von seinen Werken inspirieren. Müller schrieb bereits 1825 eine Biografie über ihn.

Am meisten verehrt wird Byron allerdings heute noch in Griechenland, wo er ein Nationalheld ist und sein Name ein verbreiteter Name für Jungen wurde (ausgesprochen ‚­Vieron‘), selbst ein Athener Stadtbezirk heißt nach ihm. In Missolonghi gibt es einen Heldenfriedhof, auf dem das Denkmal für Byron einen zentralen Platz einnimmt.

Ein ausführlicher Artikel Jenny Farrells zur Widerspiegelung Byrons politischer Einsichten in seiner Dichtung erscheint in der nächsten Ausgabe der Marxistischen Blätter.
Ein Essayband mit Aufsätzen und Artikeln von Jenny Farrell – „Kunst und Befreiung“ – erscheint in Kürze im Neue Impulse Verlag.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Der revolutionäre Lord", UZ vom 19. April 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit