Elfter Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Erstmals äußern sich zwei der Angeklagten. Richter erlässt Beweisverwertungsverbot zu ihren Gunsten

„Der Einsatz war ein Erfolg für uns“

„Wir sind hier, um darauf zu warten, dass Gerechtigkeit geschieht. Wir warten darauf, dass am Ende jeder weiß, dass die Polizisten unrecht hatten, als sie unseren Bruder töteten.“ So haben sich Sidy und Lassana Dramé kurz vor dem elften Prozesstag geäußert. Ihr Bruder Mouhamed Lamine Dramé wurde am 8. August 2022 von Polizisten in Dortmund getötet. Seit Ende Dezember müssen sich fünf der Polizeibeamte vor dem Landgericht Dortmund für den tödlichen Einsatz verantworten.

Eine Befürchtung von Sidy Dramé hingegen hat sich nach dem elften Verhandlungstag am 17. April als berechtigt erwiesen. „Wir rechnen mit gut vorbereiteten Aussagen seitens der Polizisten, welche in unserer Erwartung keinen Beitrag dazu leisten werden, die Realität des Geschehens abzubilden.“

Bislang hatten die fünf Angeklagten geschwiegen. Zehn Verhandlungstage lang hörten sie zu, wie die sieben ihrer Kollegen als Zeugen aussagten, die ebenfalls an dem Einsatz beteiligt waren, aber nicht angeklagt sind. Sie hörten die Zeugenaussagen der Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung, in der Mouhamed erschossen wurde – nur eine steht noch aus. Sie hörten die Zeugenaussagen der Rettungssanitäter, die Mouhamed versorgten – nur eine steht noch aus. Gründlicher konnten sich die Angeklagten und ihre Strafverteidiger kaum vorbereiten.

„Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie“, erklärt Bo, einer der Sprecher des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. „Das überrascht uns nicht.“

Das Medieninteresse ist groß an diesem elften Prozesstag, auch der Besucherandrang hat wieder zugenommen im Vergleich zu den vorangegangenen Verhandlungstagen. Nesrin Öcal, Pressesprecherin des Landgerichts Dortmund, organisiert eine zusätzliche Sitzbank. Es wird eng im Saal 130. Die Verhandlung beginnt mit 28 Minuten Verspätung.

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Sie werden vom Gericht, den Angeklagten und deren Verteidigern ignoriert: Rechtsanwältin Lisa Grüter (links), Sidy Dramé (zweiter von links und Lassana Dramé (zweiter von rechts). (Foto: Valentin Zill)

Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm kommt ohne Umschweife zur Sache und erteilt Thorsten H. das Wort: „Sie wollten sich einlassen.“ H. leitete den Einsatz, der das Leben von Mouhamed Dramé beendete. Die Staatsanwaltschaft Dortmund wirft ihm vor, seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt verleitet zu haben. Seit 1985 sei er Polizist, gibt H. an. 2011 sei er Dienstgruppenleiter in der Dortmunder Polizeiwache Nord geworden. In dieser Funktion koordiniere er Einsätze vor Ort.

Thorsten H. spricht unaufgeregt und bestimmt, wie jemand, der gewohnt ist, Befehle zu erteilen, die nicht hinterfragt werden. In knappen Sätzen schildert er, wie der Einsatz abgelaufen sein soll.

H. und seine Kollegen seien zu der Jugendhilfeeinrichtung geschickt worden, weil sich ein suizidaler Jugendlicher mit einem Messer im Innenhof aufhalte. Weil die Lage unklar gewesen sei, habe er zivile Einsatzkräfte in diesen Innenhof geschickt, sagt H. Bei einer Einsatzbesprechung in der Holsteiner Straße habe er entschieden, zunächst zu versuchen, Kontakt zu dem Jugendlichen aufzunehmen und ihn zum Weglegen des Messers zu bewegen.

Mouhamed Dramé befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Der Versuch eines Zivilpolizisten, mit ihm in einen Dialog zu treten, fruchtete nicht.

Thorsten H. teilte seinen Untergebenen dann polizeiliche Waffensysteme zu und ließ sie Aufstellung beziehen. Die Angeklagte Pia Katharina B., die Mouhamed Dramé mit einem Taser angegriffen haben soll, und er hätten etwa drei Meter von dem Jugendlichen entfernt Stellung bezogen. Nur so sei „Treffsicherheit“ gewährleistet gewesen. Er habe entschieden, keinen Taser einzusetzen, behauptet H. Taser und Maschinenpistole hätten nur der „Eigensicherung“ gedient. Er habe Kräfte aus der unmittelbaren Umgebung um Mouhamed Dramé herum entfernt und Jeannine Denise B. den Auftrag gegeben, Pfefferspray einzusetzen. Daraufhin sei Dramé mit dem Messer in der Hand auf die Beamten zu gelaufen. Es seien zwei „Distanzelektroimpulsgeräte“ (DEIG) ausgelöst worden, dann habe Fabian S. mit der Maschinenpistole auf Mouhamed Dramé geschossen. Der Jugendliche sei zu Boden gegangen. Er habe ihn gefesselt.

Die Version, die Thorsten H. zum Besten gibt, widerspricht Augenzeugenberichten der Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung in einigen zentralen Punkten. Sie passt genau zu entlastenden Aussagen seiner Kollegen im Zeugenstand.

Zu Fabian S., dem mutmaßlichen Todesschützen und Hauptangeklagten, soll Thorsten H. bei der Verteilung der polizeilichen Zwangsmittel gesagt haben: „Du bist unser last man standing.“ Das erwähnt H. bei seiner Aussage nicht. Richter Kelm fragt ihn danach. Das sei „eigentlich nicht mein Sprachgebrauch“, behauptet H. Kollegen S. kenne er schon lange.

Mouhamed Dramé habe das „Messer in sehr merkwürdiger und angespannter Position“ gehalten und „auf Zehenspitzen“ gestanden, als er an der Kirchwand lehnte. Thorsten H. behauptet, beobachtet zu haben, wie der Jugendliche das „Messer kurz nach unten senkt“. Daraufhin habe er entschieden, Pfefferspray einzusetzen, damit der 16-jährige sich mit den Händen über das Gesicht wische und das Messer fallen lasse. Der Einsatz dieses Zwangsmittels sei nicht angedroht worden. Das Reizgas habe Dramé „als Nebel, als Wolke“ erreicht, nicht als Strahl, wie eigentlich vorgesehen. „Etwas Wirkstoff wird ihn schon getroffen haben“, sagt H. Dramé sei „sofort aufgesprungen, als die Wolke ihn erreicht hat“, behauptet er. Der Jugendliche sei „losgerannt“. In der polizeilichen Vernehmung kurz nach der Tat hatte H. hingegen angegeben, er sei „schnellen Schrittes“ auf die Beamten zu gegangen.

Richter Kelm fragt den Dienstgruppenleiter, ob Dramé einen anderen Fluchtweg hätte nehmen können als den auf die Polizeibeamten zu. Mouhamed stand in einer Nische des Innenhofs, die an zwei Seiten von einer Kirche begrenzt ist und an einer dritten von einem Zaun, über den er kaum hätte klettern können. Auf der offenen Seite hatten neun der zwölf eingesetzten Polizisten Stellung bezogen. Drei standen auf der anderen Seite des Zauns – darunter Jeannine Denise B., die den Jugendlichen mit Pfefferspray angegriffen, und Markus B., der ihn getasert haben soll.

„Er hätte weiter in die Ecke laufen können oder drei bis vier Meter auf den Zaun zu statt auf uns“, behauptet Thorsten H. Kopfschütteln im Gerichtssaal.

Der Einsatzleiter will „Messer weg!“ gerufen haben, auf Deutsch und auf Englisch, als Mouhamed Dramé auf die Beamten zu gerannt sei. Unweit der Mauer, an der der Jugendliche lehnte, parkte ein Smart, hinter dem mehrere der Polizisten in Deckung gegangen waren. Thorsten H. behauptet, Mouhamed Dramé sei schon auf Höhe dieses Smart angekommen, als mit Tasern auf ihn gezielt wurde. Er habe die Treffer gesehen und sich gewundert, dass die keine Wirkung zeigten. Fabian S. habe geschossen, als der Jugendliche am Ende der Motorhaube des Smarts angekommen sei.

Diese Behauptung steht im Widerspruch zu Zeugenaussagen, nach denen Mouhamed Dramé vor der Motorhaube des Smarts zu Boden ging. „Er lag aber mit dem Oberkörper vor dem Smart“, sagt Oberstaatsanwalt Carsten Dombert.

„Wir waren der Ansicht, als wir noch vor Ort waren, dass der Einsatz ein Erfolg war für uns“, sagt Thorsten H. Er habe „gar nicht verstehen“ können, dass der Jugendliche „bei sofortiger Versorgung stirbt“. Fünf der sechs Kugeln, die Fabian S. auf Mouhamed abgefeuert haben soll, trafen.

Nach diesem Verhandlungstag wird Lisa Grüter der Presse sagen: „Mich verwundert die Verwunderung, dass jemand nach sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole stirbt.“

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Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm (Bildmitte) eröffnet die Verhandlung am elften Prozesstag. Sein Umgang mit den Nebenklägern und deren Vertretern ist respektlos und unwürdig. (Foto: Valentin Zill)

Das Gericht, die Staatsanwälte und die Vertreter der Nebenklage befragen Thorsten H. ausgiebig. Staatsanwältin Gülkiz Yazir will wissen, ob die Beamten nicht weiter in den Hof hätten zurückweichen können. „Nein, dann hätte der Einsatz nicht geklappt“, behauptet H. Eine Dienstvorschrift der Polizei Nordrhein-Westfalen sieht vor, dass Polizisten mindestens sieben Meter Abstand halten zu Menschen, die mit einem Messer bewaffnet sind. Die meisten der Beamten, die an dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Dramé beteiligt waren, haben diese Vorgabe missachtet.

Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der zusammen mit Rechtsanwältin Lisa Grüter die Familie des Opfers vertritt, fragt H., ob ihm die Diskussion über Reizgaseinsatz in psychischen Ausnahmesituationen bekannt sei. In Fachkreisen ist bekannt, dass Pfefferspray in solchen Fällen unter Umständen nicht wirkt oder den Angegriffenen aggressiv machen kann. Diese Diskussion kenne er nicht, behauptet Thorsten H. Er räumt ein, dass Pfefferspray nicht immer wirke.

H. sagt auch, dass Mouhamed Dramé vor dem Reizgas-Einsatz nicht gewarnt wurde. Die Bodycams der uniformierten Polizisten seien nicht eingeschaltet gewesen, weil das gesetzlich nicht vorgesehen sei, wenn man mit suizidgefährdeten Menschen zu tun habe. Dramé habe das Küchenmesser „normal in der Hand gehalten beim Laufen“ und sei nicht etwa mit erhobenem Messer auf die Beamten zu gelaufen.

Eine ganze Zeit nach der Tat hatte Oberstaatsanwalt Dombert entschieden, die Handys der Angeklagten beschlagnahmen zu lassen. „Haben Sie Chats von Ihrem Handy gelöscht?“, fragt Rechtsanwältin Grüter. Das habe er, antwortet H. Er mache das regelmäßig, etwa so, wie man nach einem Anruf auflege.

Ob man die Lage nicht hätte statisch halten können, fragt Lisa Grüter weiter. Thorsten H. wird ungehalten. „Was soll ich an dieser Stelle abwarten? Bis er sich das Messer in den Bauch rammt?“, bellt H.

Operation gelungen, Patient tot.

Anwältin Grüter liest aus einer WhatsApp-Nachricht von Markus B. vor, in der von einer „Zeitlage“ die Rede ist, die „sicher“ gewesen sei. H.s Strafverteidiger Michael Emde unterbindet ihre Frage in rüder und respektloser Weise.

Als zweiter der Angeklagten äußert sich Markus B. an diesem elften Prozesstag. B. war mit Jeannine Denise B. und einer Auszubildenden zu einem anderen Einsatz unterwegs, als seine Streife zu der Jugendhilfeeinrichtung umdisponiert wurde. Sie seien als letzte dort eingetroffen und hätten nur eine „minimale Kurzeinweisung“ durch Thorsten H. bekommen. Er und seine beiden Kolleginnen sollten um den Block herum gehen, um sich auf der anderen Seite des Zauns direkt gegenüber von Mouhamed Dramé zu positionieren.

Die Jugendhilfeeinrichtung sei ihm nicht bekannt gewesen, sagt B. Er sei über einen Zaun in den falschen Innenhof geklettert, habe kehrt machen müssen und den Dienstgruppenleiter informiert.

Wer sich den Tatort anschaut, versteht kaum, wie es zu einem solchen Irrtum kommen konnte.

Er habe sich dann hinter einem Stromkasten positioniert, sagt B., und seinen Taser eingestellt. Der könne von Kurzdistanz-Visierungspunkten auf Weitdistanz umgestellt werden. Er habe die passende Einstellung an der Kirchenmauer getestet und den Taser dann weggesteckt. Als der Auftrag kam, „wir sollen einpfeffern“, habe er Mouhamed Dramé diametral gegenüber gestanden. Jeannine Denise B. habe zwei Meter weiter rechts gestanden. Das Pfefferspray habe Mouhamed Dramé links im Gesicht und an der Schulter getroffen. Als der Jugendliche aufgestanden sei, habe er eigenmächtig entschlossen, den Taser einzusetzen, um „ihn und die Kollegen“ zu schützen. Richter Kelm zitiert später aus einer WhatsApp-Nachricht von B., wie der den Tasereinsatz gegenüber seinen Kollegen rechtfertigte: „Zu 98 Prozent stirbt man nach einem Tasereinsatz nicht.“

Markus B. sagt, er habe den Eindruck gehabt, Dramé getroffen zu haben. Der sei aber weiter auf seine Kollegen zu. Die Schüsse habe er gehört, aber nicht sehen können.

Richter Kelm fragt B. nach dem Einsatz von Reizgas gegen suizidale Menschen. Thorsten H. hatte von etwa 20 solcher Einsätze pro Jahr gesprochen, auf diese Zahl komme er auch ungefähr, sagt B. Pfefferspray wirke unterschiedlich, sei aber ein geeignetes Mittel und aus seiner Sicht „verhältnismäßig“.

Weder H. noch B. hatten sich als Polizisten zu erkennen gegeben. Beide geben an, das für nicht notwendig gehalten zu haben. Mouhamed Dramé habe „deutlich wahrnehmen“ können, dass Polizei da sei. Die Zeugenaussagen der Beschäftigten der Jugendhilfeeinrichtung legen hingegen nahe, dass Mouhamed nicht mitbekam, was um ihn herum geschah.

Als Lisa Grüter B. eine Aussage vorhalten will, die er bei seiner Vernehmung in den Tagen nach der Tat bei der Polizei Recklinghausen gemacht hatte, interveniert B.s Verteidiger Marc Imberg. Die damals gemachten Aussagen seien nicht verwertbar, weil B. als Zeuge vernommen worden sei, nicht als Beschuldigter.

Schon am ersten Prozesstag hatte Richter Kelm gesagt, die Aussagen der Angeklagten seien deshalb möglicherweise nicht verwertbar. Die Vertreter der Nebenklage hatten ihn darum gebeten, klar zu sagen, ob er ein Beweiserhebungsverbot erlassen wolle oder nicht. Bislang hat Kelm sich um eine Anordnung gedrückt.

Das versucht er jetzt wieder. Man werde zu gegebener Zeit sehen, wie man damit verfahre, sagt er. Rechtsanwältin Lisa Grüter besteht auf einer klaren Entscheidung, sonst könne sie keine Rechtsmittel dagegen einlegen. Kelm reagiert ungehalten und erlässt „die Anordnung des Vorsitzenden, dass die Zeugenvernehmungen der Angeklagten nicht verwertbar sind“.

Lisa Grüter antwortet mit einer Erklärung, in der sie das Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot Kelms beanstandet. Es verstoße gegen die Aufklärungspflicht des Gerichts, trägt Grüter vor. Mitnichten jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsregeln – Beschuldigte müssen auf ihren Status hingewiesen werden, weil sie anders als Zeugen das Recht haben, die Aussage zu verweigern – führe zu einem Beweiserhebungsverbot, argumentiert sie. Es habe „eine Abwägung zu erfolgen“ zwischen „individuellen Beschuldigtenrechten und dem Strafanspruch des Staates und dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung.“ Dazu gebe es mehrere wegweisende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Vor allem aber ergebe sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ein „Gebot der effektiven Aufklärung bei behauptetem polizeilichen Fehlverhalten.“ Würden die Aussagen der Angeklagten nicht verwertet, müsse sich die BRD wegen eines Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten, befürchtet Grüter.

Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm schneidet Grimassen, während die Anwältin ihren Antrag verliest.

Den vernommenen Polizisten sei bewusst gewesen, dass die Mordkommission der Dienststelle Recklinghausen ermittelt habe und sie durch ihre Beteiligung an diesem Einsatz „grundsätzlich auch eine Beschuldigteneigenschaft zugeschrieben bekommen“ könnten.

Diese Möglichkeit war Markus B. bewusst. Das geht aus WhatsApp-Nachrichten hervor, die er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Mandy B. austauschte. Lisa Grüter trägt aus den Chats vor. „Richtige Wichser von Recklinghausen“, schreibt Markus B. darin. Mandy B. fragt, ob er Zeuge oder Beschuldigter sei. „Wollen sie mir am Telefon nicht sagen“, antwortet Markus B. Seiner damaligen Freundin teilt er mit, ein Kollege aus Recklinghausen habe ihm mitgeteilt, er werde über die Staatsanwaltschaft vorgeladen, wenn er jetzt nicht komme. „Ich habe nur darauf geantwortet: Pass mal auf, wie redest du mit mir. Ich bin nicht dein Hampelmann. Ich frühstücke, gehe duschen und dann überlege ich mir, ob ich komme.“

Markus B. sitzt meistens mit einem leichten Grinsen im Gerichtssaal, das überheblich wirkt. Seine Miene friert ein, als Anwältin Grüter aus den Chats zitiert. Schließlich zuckt sein rechter Mundwinkel vor Wut.

Richter Kelm unterbricht Grüter rüde und herablassend, doch die Anwältin lässt sich nicht beirren.

Aus den Angaben der seinerzeitigen Zeugen und heutigen Angeklagten werde deutlich, dass „kein subjektiver Notwehrwille gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff“ beschrieben worden sei. Mouhamed Dramé habe sich „ursprünglich in einer passiven, statischen Lage“ befunden, „in der nicht einmal eine Selbstverletzung konkret zu befürchten war.“ Er habe auf mehrere Anspracheversuche und „erhebliche Veränderungen seiner Umwelt überhaupt nicht reagiert“ und kein „selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten“ aufgenommen. Erst nach dem Angriff mit Pfefferspray auf ihn habe Mouhamed Dramé sich in Bewegung gesetzt. Dabei habe er zwar das Messer noch in der Hand gehalten – „jedoch schildert im Rahmen der Vernehmungen keiner der jetzt Angeklagten, dass er oder sie einen konkreten Angriff mit dem Messer auf sich oder andere befürchtet hat.“

Lisa Grüter schildert weiter, dass der Einsatz der polizeilichen Zwangsmittel Mouhamed gegenüber nicht angedroht worden war und er nicht einmal aufgefordert worden war, das Messer wegzulegen, „schon gar nicht in einer für ihn verständlichen Sprache.“ Keiner der Angeklagten behaupte anderes. Das ist richtig: Thorsten H. bestätigt ausdrücklich, Mouhamed nicht auf den bevorstehenden Reizgaseinsatz hingewiesen zu haben.

Als Grüter ihre Erklärung verlesen hat, erklärt Richter Thomas Kelm von oben herab: „Da haben Sie das Wichtigste vergessen.“ Als Grüter nachfragt, was konkret das sei, laviert der Vorsitzende Richter zunächst. Dann sagt er, Thorsten H. habe umfassend ausgesagt. Frau Grüter möge einen Punkt bei Markus B. nennen, an dem eine Vorhaltung aus seiner Zeugenaussage nutze.

Rechtsanwältin Lisa Grüter schaut ungläubig – das hat sie gerade getan, einige Minuten lang.

„Konkret“, sagt Grüter, „B. hat heute gesagt, Mouhamed Dramé sei mit einer fließenden Bewegung aufgestanden. Aber in der Vernehmung hatte er gesagt, Mouhamed Dramé hätte sich erst orientiert.“

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Von links nach rechts: Die Strafverteidiger Christoph Krekeler, Jan-Henrik Heinz, Michael Emde und Marc Imberg beraten sich vor dem elften Verhandlungstag. (Foto: Valentin Zill)

Richter Kelm hat, Stand heute, jeden Antrag der Nebenklage abgelehnt. Stets empfahl ihm die Staatsanwaltschaft, abzulehnen. So auch heute. „Ich gehe von der Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen aus“, behauptet Gülkiz Yazir.

„Dann ist Schluss für heute?“, fragt Kelm.

Christoph Krekeler meldet sich zu Wort. Er verteidigt den mutmaßlichen Todesschützen. Eigentlich hatte sein Mandat vor, sich heute einzulassen, sagt er. Es sei aber so viel auf den Tisch gekommen, dass man die Verhandlungspause bis Mai nutzen wolle. Fabian S. hat bislang noch gar nicht ausgesagt, auch nicht bei der Mordkommission der Polizei Recklinghausen.

Thomas Feltes hat noch Fragen an Markus B. Ob Drähte seines Tasers gebrochen sein könnten? Das sei sehr plausibel, sagt B. Es habe nur ein Kabel im Taser gesteckt, als Dramé sich bewegt habe. Für einen geschlossenen Stromkreislauf sind zwei erforderlich. Wie Mouhamed Dramé vor dem Reizgaseinsatz auf ihn gewirkt habe, will Feltes wissen. B. beschreibt dessen Körperhaltung. „Apathisch nicht?“ „Sonst hätte er das Wort genutzt“, ätzt B.s Verteidiger. Markus B. antwortet trotzdem: „Dass er auf Aufforderung der Polizei keine Lust hat.“

Nach der Verhandlung formuliert Lisa Grüter im Gespräch mit der Presse vorsichtig, bei den Polizisten sei keine Reue wahrnehmbar. Die Angeklagten hätten schließlich Bedauern ausdrücken können, ohne sich juristisch zu belasten.

Das Warten der Familie Dramé auf Gerechtigkeit geht weiter. Ob es je endet?

Der Prozess wird am 22. April fortgeführt.

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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